DDR 1989/90 Brandenburger Tor


DIE NELKEN marxistische Partei

Aufgaben und Probleme scheinen schier unlösbar

Aus dem Referat Wahlkampf - gehalten auf der konstituierenden Sitzung der Bezirksbasisorganisation Suhl

Aufgrund unseres Statuts einer marxistischen Partei müssen wir davon ausgehen, dass wir von vornherein im Wahlkampf benachteiligt werden. Die übergroße Mehrheit unseres Volkes geht fälschlicherweise von einem Versagen des Sozialismus als Gesellschaftssystem aus. Wir stellen fest: Sozialismus hat es bisher nie gegeben. Im Programmentwurf ist eindeutig formuliert, dass im Oktober 1917 mit der "Errichtung des Sozialismus in einem Land, in der Sowjetunion, statt einer Verschmelzung von Legislative und Exekutive ... die Macht weiter zur Exekutive verschoben ... wurde und nachfolgend die Gewaltenteilung abgeschafft wurde. Dies bedeutete, hinter die Errungenschaften der bürgerlichen Gesellschaft zurückzugehen. Es wurde eine Verflechtung von Partei und Staat geschaffen. Macht und Eigentumsverhältnisse entstanden, wie sie z.B. der katholischen Kirche eigen sind. An die Stelle des Marxismus trat eine Religion: Einzelne Sätze marxistischer Theoretiker wurden aus ihrem Zusammenhang gelöst, ihres Inhaltes beraubt und zu Dogmen erhoben. Eine gottähnliche Mystifizierung von Begriffen wie Arbeiterklasse, Partei und Staat setzte ein. Nicht mehr der eigene Gedanke, die eigene Initiative, die Freiheit des einzelnen Menschen erhielt ausschlaggebende Bedeutung, sondern der statistische Erhalt eines einzig wahren Glaubens und seine Durchsetzung. Die Sicherheitsorgane des Staates erhielten die politische Aufgabe einer Art Inquisition. Entsprechend der Rückwirkung dieses Überbaus auf die Basis nahmen die Produktionsverhältnisse vorkapitalistischen Charakter an. Ein solches Gesellschaftssystem musste scheitern ..."

Man muss also davon ausgehen, dass die Grundlagen für die Entstehung des Stalinismus und des Personenkults, der die Deformierung der sozialistischen Ideale auf die Spitze trieb und schließlich ganz negierte, bereits im Zuge der Oktoberrevolution geschaffen wurden. Die Umsetzung der marxistischen Philosophie in die Praxis wurde fehlerhaft betrieben. Millionen ehrliche Kommunisten, Christen und andere Andersdenkende mussten in den stalinistischen Ländern ihr Leben lassen, ihnen fühlt sich unsere Partei verpflichtet.

Wir müssen uns dagegen verwahren, dass der Marxismus dafür schuldig gesprochen wird, was in der Vergangenheit geschah. Unzählige Kommunisten wanderten aus Hitlers Konzentrationslagern in die Internierungslager Stalins. Hunderte Kommunisten und Antifaschisten wurden im Rahmen des "Freundschaftsvertrages" zwischen der Sowjetunion und dem faschistischen Deutschland an Hitler ausgeliefert. Bedarf es noch weiterer Beweise? Wir müssen uns dafür einsetzen, dass die jeder Logik und Berechtigung entbehrende Planwirtschaft bisherigen Stils nicht durch die un soziale Marktwirtschaft à la Bundesrepublik ersetzt wird. Die Abschaffung des einen Übels rechtfertigt doch nicht die Einführung eines neuen. Wir sind für die Einführung einer Marktwirtschaft bei gesellschaftlicher Rahmenplanung. Das heißt: Eine Marktwirtschaft, die solche Erscheinungen wie Arbeitslosigkeit, Obdachlosigkeit und überhaupt soziale Unsicherheit ausschließt. Auf diesen Grundsätzen aufbauend, müssen wir die Interessen der Werktätigen als Tagesaufgaben formulieren. Nur ein Beispiel: Auch nach der "Wende" werden grundsätzliche ökonomische Entscheidungen in den Betrieben, z. B. über Joint Venture, über die Köpfe der Arbeiter hinweg getroffen. Aufgrund des praktischen Nichtvorhandenseins von Gewerkschaften fordern wir die sofortige Konstituierung von Betriebsräten in den Betrieben und die gesetzliche Verankerung dieser Institution. Wir arbeiten zur Zeit an dem Entwurf eines Betriebsverfassungsgesetzes. Aufgrund der zunehmenden ausländischen Kapitalbeteiligung in unserer Wirtschaft fordern wir ein generelles Streikrecht.

Zur Frage der Wiedervereinigung beziehen DIE NELKEN folgende Position: Wir wenden uns gegen eine Vereinnahmung der DDR durch die BRD. Dies würde aufgrund unserer Wirtschaftslage unweigerlich zur Verarmung und sozialem Notstand führen. Bezüglich der Einführung kapitalistischer Beteiligungen in unserer Volkswirtschaft, die unweigerlich Arbeitslosigkeit und Existenzangst in der DDR zur Folge haben werden, vertreten DIE NELKEN die Auffassung, dass möglicherweise die Meinung in der Bevölkerung über die Einführung des Kapitalismus in unserem Land in den nächsten Monaten und Jahren wesentlich kritischer wird. Noch einmal zum besseren Verständnis: Eine Konföderation mit der BRD im Rahmen eines geeinten Europas wäre grundsätzlich zu begrüßen. Die Zusammenarbeit mit der BRD ist Grundstein für unsere wirtschaftliche Weiterentwicklung. Die staatliche Einheit unter kapitalistischen Vorzeichen lehnen wir prinzipiell ab.

Zur Frage des Neofaschismus in unserem Land: DIE NELKEN sind eine antifaschistische Partei. Wie ernst das Problem des Neofaschismus und des Ausländerhasses in unserem Land ist, zeigt u.a. die Tatsache, dass Nordkorea alle seine Studenten zurückholte und auch andere Länder dies ankündigten. Wir als Deutsche haben eine ganz besondere Verantwortung bezüglich solcher Tendenzen. Unsere Partei tritt für eine politische Lösung dieses Problems ein. Mit Gewalt wurden noch nie Probleme gelöst, höchstens neue heraufbeschworen. Wenn Faschisten und Nationalisten gewalttätig werden, muss ihnen natürlich mit allen Mitteln des Rechtsstaates begegnet werden. Langfristig kann aber nur der Dialog Abhilfe schaffen. Wir sind bereit, mit allen demokratischen Kräften in dieser Frage zusammenzuarbeiten. Soweit ich die Programme der anderen Parteien kenne, wir sind im Moment die einzige Partei, die klare Konzepte für eine. sozialistische Alternative aufweist. Wir sind Realisten und gehen davon aus, dass auch aufgrund da vorgezogenen Wahltermins unsere Partei kein überwältigendes Ergebnis bei den Wahlen zur Volkskammer erzielen wird. Aufgrund der Kürze der Zelt kommt auch ein Wahlbündnis mit anderen Parteien und Organisationen zu den Wahlen zur Volkskammer nicht in Frage.

Liebe Freunde, ich weiß, dass die vor uns liegenden Aufgaben und Probleme schier unlösbar scheinen und eher Anlass zu Pessimismus geben. Aber Kommunisten sind immer auch Optimisten. Wirklich zu spät ist es erst dann, wenn wir uns selbst aufgeben.

(Sämtliche Zitate stammen aus dem Programmentwurf "DIE NELKEN" - marxistische Partei)

Thomas S(...), Mediensprecher

aus: Freies Wort, Nr. 48, 26.02.1990, 39. Jahrgang, Unabhängige Tageszeitung für Südthüringen

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