"Es wird schon nicht so schlimm . . ."

die andere sprach mit der ehemaligen Ministerin für Arbeit und Soziales, Dr. Regine Hildebrandt

Die wegen ihres Realismus von vielen so hoch geschätzte Arbeitsministerin Regine Hildebrandt (SPD) ist inzwischen zurückgetreten. Unser Interview wurde am 16. 8. zu einer Zeit geführt, da Frau Hildebrandt noch im Amt war. Wir drucken es hier als Dokument einer Denkweise ab, die für die letzte DDR-Regierung im allgemeinen typisch war: "Wir werden es schaffen, weil wir es schaffen müssen." Jetzt, wo wir vor den Trümmern stehen, die die Schnellvereinigungs-Politik hinterlassen hat, wird einmal mehr deutlich, wie verlogen der Aufruf zum "Ärmelhochkrempeln" war und wie wenig realistisch selbst Regine Hildebrandt den sozialen Abstieg eines ganzen Volkes sah.

die andere: Was haben die DDR Bürger zu erwarten, wenn schlagartig mit dem Beitritt bundesdeutsches Recht übernommen wird?

Hildebrandt: Wir haben versucht, im Einigungsvertrag alles festzuschreiben, was wir für unabdingbar hielten. Man muss tatsächlich vorher wissen, welche Regelungen man in Änderungsgesetzen festschreiben muss, weil sonst automatisch bundesdeutsches Recht in Kraft tritt. Also, wenn ich mal ein praktisches Beispiel nehmen darf: Bei einer Belegschaftsversammlung in der Textilindustrie in Mittweida sagte mir ein Arbeitnehmer, er verstehe das alles nicht, wir sollten doch sofort beitreten, und dann wäre der Fall erledigt. Und daraufhin hab ich ihm dann gesagt, es wäre in diesem Falle beispielsweise so, dass die Textilindustrie, die ja im Dreischichtsystem arbeitet, sofort die Frauen entlassen müsste, da Nachtarbeit für Frauen verboten ist. Außerdem müsste sein Betrieb sowieso die Arbeit einstellen, weil er in Gänze den sicherheitstechnischen Bedingungen nicht entspricht, dass viele DDR-Betriebe die Arbeit einstellen müssten, weil sie den strengen Umweltregelungen der Bundesrepublik nicht genügen, die Hotels müssten schließen, weil die feuertechnischen Bedingungen andere sind, die Lebensmittelindustrie könnte zu einen großen Teil nicht mehr bestehen, weil die hygienischen Bedingungen nicht eingehalten werden. Ganz abgesehen davon, dass Krippen und Kindergärten wegfallen würden und die Frauen ohnehin über kurz oder lang das weite suchen müssten. In der Bundesrepublik arbeitet ja auch nur etwa die Hälfte der Frauen, und es wird in der Diskussion davon ausgegangen, dass, wenn hier soviel arbeitslose Frauen sind, sie dann sowieso zu Hause bleiben könnten. Und auch Frau Lehr (Ministerin für Gesundheitswesen, Bundesrepublik, d. Red.) hat zum Muttertag in diesem Jahr gesagt, dass sich die Frauen in der DDR nun endlich ihren Kindern widmen könnten.

die andere: Wie könnte oder müsste man speziell der Frauenarbeitslosigkeit begegnen?

Hildebrandt: Wichtig ist in der sozialen Marktwirtschaft, dass man die sozialen Rechte, die man hat, erst mal wirklich wahrnimmt. Das heißt, dass die sozial ungerechtfertigte Kündigung ungesetzlich ist. Die Betriebs- oder Personalräte, die sich jetzt bilden, müssen also Sozialpläne machen und überprüfen, was sozial gerechtfertigt ist und was nicht. Alleinerziehende Frauen mit Kindern unter drei Jahren z.B. haben Kündigungsschutz. Also mit anderen Worten: Erstmal wehren und wirklich die Rechte vor Ort wahrnehmen und dann natürlich flexibler sein. Man muss auch sehen, was in der Branche zu machen ist.

... Wir brauchen in Zukunft gerade Arbeitskräfte im Versicherungsbereich, im Bankbereich. Man muss sich überlegen, ob man sich dahin bewegt. Oder nehmen wir das Hotel- und Gaststättenwesen, das wird mit Sicherheit sehr aufblühen. Jetzt nicht, im Moment blüht hier nichts auf, aber perspektivisch. Auch der Handel wird sich verdoppeln müssen. Man muss einfach wirklich ideenreicher sein und sehen, wo ist vor Ort die Marktlücke.

Wir haben aber noch das Arbeitsförderungsgesetz, das das Werkzeug darstellt für Kurzarbeitergeld, für Arbeitslosengeld, für Umschulungsmaßnahmen, für die Vorruhestandsregelung und für die Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen. Das sind Maßnahmen, die ein gemeinnütziger Träger organisiert. Und das Arbeitsamt trägt die Lohnkosten. Und zwar bis zu 100 % nach unserer DDR-Regelung. Wir müssen die Möglichkeiten eben nur nutzen, es ist wirklich so, dass sie da sind.

die andere: Ist das in der jetzigen Situation nicht ein wenig perspektivlos?

Hildebrandt: Du kannst ja bis zu zwei Jahren eine Arbeitsbeschaffungsmaßnahme machen, und das sind dann erst mal schon zwei Jahre. Und da ist dann auch die Kaufkraft wieder wesentlich besser als jetzt. Man hat dann auch mit Existenzgründungen mehr Erfahrungen und ist besser in der Lage, das auch umzusetzen. Ich denke, dass wir derzeit, wo wir 320 000 Arbeitslose und 900 000Kurzarbeiter haben, keine Arbeitsplätze vermitteln können, wir können höchstens Übergangslösungen schaffen. Und da ist eben in erster Linie die Möglichkeit der Umschulung zu nutzen, die aber in dem Maße, wie sie jetzt benötigt wird, auch nicht vorhanden ist, und zweitens die ABM. Jetzt sind schließlich 9,5 Milliarden für Infrastrukturmaßnahmen direkt an die Kommune gegangen. Damit ist auch die Möglichkeit gegeben, dort den Mittelstand, die Kleinbetriebe und auch die Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen zu organisieren.

die andere: Es scheint ein strategisches Konzept zu geben, die DDR nur als Verbrauchermarkt zu er schließen . . .? Wie kann man dagegen vorgehen, auch als Einzelner?

Hildebrandt: Das ist zwar so, aber es wird mit Sicherheit nicht so bleiben Die Industrie wird einen Aufschwung nehmen und damit auch der Mittelstand und der Dienstleistungssektor. Es wird alles besser laufen, und die neuen Arbeitsplätze werden da sein. Ich bin der Überzeugung, dass es nicht sofort passiert, aber in den nächsten Jahren wird sich das ausgleichen. Wir werden schlimmsten falls ein strukturschwaches Land wie Schleswig-Holstein sein, aber ab 1994 gilt der Länderfinanzausgleich.

die andere: . . . aber wie viele Menschen sind bis dahin "unter den Tisch gefallen"?

Hildebrandt: Die fallen ja nicht unter den Tisch, es gibt ja dieses segensreiche System, dass du das soziale Netz in Form des Sozialhilfegesetzes hast. Es braucht keiner Angst zu haben, dass er tatsächlich hungern und frieren muss und keine Wohnung hat. Das ist in einem Sozialstaat wie der Bundesrepublik nicht möglich. (Im "Sozialstaat" BRD gibt es über 100 000 Obdachlose. Winter für Winter erfrieren Menschen unter freiem Himmel - d. Red.) Und man muss sagen, sie stellt eines der höchstentwickelten Systeme überhaupt in dieser Richtung dar, es fällt im Prinzip niemand durch. Die Sozialhilfe gibt die Möglichkeit. zu überleben bei Bedürftigkeit. Und die Bedürftigkeit muss nachgewiesen werden, dann bekommst du übers Sozialhilfegesetz die Sozialhilfe von 400 Mark und dazu Wohn- und Heizungsgeld, so dass du leben kannst.

die andere: . . . existieren . . .

Hildebrandt: Ja, dass du existieren kannst. Man muss eben bloß nachgewiesen haben, dass man bedürftig ist und in der Verwandtschaft niemanden hat - Eltern oder erwachsene Kinder, die in der Lage sind, dich zu unterstützen. Das muss mit einem Bedürftigkeitsnachweis, mit einer Vermögensprüfung verbunden werden.

die andere: Es gibt sicher einen Zusammenhang zwischen dem Beschäftigungsboom in der Bundesrepublik und der wachsenden Arbeitslosigkeit bei uns . . .

Hildebrandt: Indirekt aber nur. Es ist so, dass der Beschäftigungsboom drüben natürlich mit dem Wirtschaftsaufschwung zu tun hat, und der hängt eben auch damit zusammen, dass wir hier so ein fantastischer Markt sind. Der Sommerschlussverkauf in Westberlin war 100 Prozent höher als sonst. Und so dürfte es mit dein Absatz in der DDR insgesamt sein. Die DDR-Bürger sind noch dazu so unvernünftig und kaufen nur Westwaren, was uns dann wieder schadet. Insofern ist es natürlich so, dass die Mehrproduktion drüben Arbeitskräfte bindet und demzufolge drüben geringere Arbeitslosenzahlen zu verzeichnen sind.

die andere: ist das nicht noch ein Beweis mehr dafür, dass der Anschluss der Bundesrepublik sehr zugute kommt? Stößt sie sich an der DDR gesund?

Hildebrandt: Ja, sie stößt sich schon gesund, aber sie hat das ja nicht initiiert. Wir müssen immer davon ausgehen, dass diese Veränderungen bei uns fantastisch sind. Einfach diese Öffnung. Kinder, also dass die Mauer nicht mehr da ist. Dass die Reglementierung nicht mehr da ist. Dass die Staatssicherheit weg ist, dass das Parteiregime nicht mehr da ist, dass wir eine Palette von Zeitungen haben, die du lesen kannst und nicht den üblichen Schnee, den wir 40 Jahre lang gelesen haben. Und was es bedeutet, wenn die Jugendlichen reisen können, wohin sie wollen. Es ist also eine geistige Öffnung, eine räumliche und eine ideologische Wir haben die Revolution gemacht, wir wollten dieses Regime loswerden, und nun sind wir es los.

Dass das verbunden ist mit einem Überstürzen von zwei Wirtschaftssystemen, die nicht miteinander kompatibel sind, ist die Schlussfolgerung daraus. Und die wirtschaftlichen Schwierigkeiten, die wir jetzt haben, sind größer als erwartet. Es nützt aber nichts. Und schau dir Osteuropa an. Alle haben diese Öffnung durchgemacht und brauchen die wirtschaftliche Entwicklung, die wir jetzt holterdiepolter in ein bis zwei Jahren machen, und ganz Osteuropa wird Jahrzehnte daran knabbern. Also mit anderen Worten, diese Länder haben die geistige Öffnung, und wir haben die räumliche. Wir bezahlen das mit einer Phase der kolossalen Belastung und Unsicherheit, das gebe ich gerne zu. Die Perspektive aber ist, dass wir es schaffen werden, weil wir es schaffen müssen. Und weil wir eben die Bundesrepublik als Partner haben. wir haben also in Kürze eine ganz positive Aussicht im Gegensatz zu Osteuropa. Also insofern sind wir wieder mal auf der Sonnenseite.

die andere: Aber sind sie nicht auch Konkursverwalter? Das alles hängt ja immer mit Menschen zusammen . . .

Hildebrandt: Ja, alles richtig. Bloß ich sage immer, der Niedergang ist vorübergehend. Es ist sicher richtig, dass wir nicht alle Menschen hinterher in Arbeit bringen können, aber im Prinzip bewältigen wir die Arbeitslosigkeit. Wir finanzieren sie, wir lenken sie mit den Maßnahmen des Arbeitsförderungsgesetzes, und wenn erst Schwung in die Bude kommt, kommen auch wieder Existenzgründungen. Die Demotivation wird nicht mehr weiter so fortbestehen, das ist ganz wesentlich. Und Langzeitarbeitslosigkeit ist eben das, was wir nicht zulassen dürfen, weil selbst die Bundesrepublik nicht in der Lage ist das Problem zu bewältigen. Nun denke ich, bei uns wirds schon nicht so schlimm sein, bei uns wollen ja noch alle arbeiten.

Bei einem Telefonforum sagte mir gestern ein selbständiger Fuhrunternehmer, sein einziger Trost sei, dass nicht nur er in der Pleite steckt, sondern all seine anderen Kumpels auch . . .

die andere: Wissen Sie, wie viel DDR-Bürger jetzt schon in der Bundesrepublik oder in Westberlin arbeiten?

Hildebrandt: Ja, das sind zwischen 80 000 und 200 000. Eins muss ich aber dazu sagen, ich kann darüber nicht mal böse sein, nur in den Fällen, wo tatsächlich hochqualifizierte Facharbeiter und Experten abgeworben werden . . .

Ich hoffe, dass die Identifizierung mit dem Land - die Sachsen sagen jetzt schon wieder stolz Sachsen, und die in Mecklenburg-Vorpommern haben ja auch schon nationale Gefühle entwickelt -, wird sich weiter fortsetzen. Ich hoffe, dass das alles dazu beiträgt, dass keine Abwanderung in großem Maße stattfindet, auch wenn die Verhältnisse sich noch weiter verschlechtern.

Das Gespräch führten Dominique Krössin und Angelika Nguyen

die andere Der Anzeiger für Politik, Kultur und Kunst, Nr. 32, Mi. 29.08.1990

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