Anachronistischer Zug am Sonntag in Berlin Fragen an Ibrahim Böhme, einen der Aufrufer

Den Gedanken des Dialogs wiedererwecken

Nach einer zweiwöchigen Tour durch 15 deutsche Städte, die in Bonn ihren Ausgangspunkt hatte, wird der Anachronistische Zug am Wahlsonntag in Berlin eintreffen. Werden Sie dabei sein, wenn die 40 Wagen zum Brechtschen Thema "Freiheit und Democracy" vor dem Reichstag auffahren?

Selbstverständlich. Es ging und geht bei dieser aktualisierten Brecht-Adaption darum, der unästhetischen Politik etwas Ästhetisches entgegen zu setzen. Brecht traf mit seinen Versen die damalige westdeutsche Realität voll und ganz; die Nazi-Richter, die Monopolgesellschaften. Wenn wir uns bemühen, 40 Jahre DDR als Teil deutscher Vergangenheit aufzuarbeiten, dann gehört dies dazu. Ein derartiger Zug wurde bereits Ende der siebziger, Anfang der achtziger Jahre gegen die Christdemokraten-Losung "Freiheit statt Sozialismus" gestaltet. Ich finde es gut, dass dieser Zug stets ein Zug der linken Vernunft, ein Zug von Sozialdemokraten, linken Gewerkschaftern, linken Intellektuellen, auch von Kommunisten, war.

Das politische Spektakel war auf seinem Weg durch die östlichen Länder nicht unumstritten.

Dass es dort gezeigt werden konnte, ist ein Erfolg der Einheit, die ich mir allerdings nicht so hastig gewünscht hätte. Wir hätten mehr von unserer echten Identität herübernehmen müssen. Ich sehe die Verstärkung sozialer Verwerfungen im Osten Deutschlands. Vieles an solidarischer Identität ging in einer deutsch-zentristischen Nabelschau unter. Die Republikaner fordern: Berlin muss deutsch werden. Christdemokraten sagen: Wir machen deutsche Städte frei von Ausländerkriminalität. Das sind für mich Ansätze von Volksverhetzung. Wer denkt noch an das europäische Haus, an die Dritte Welt?!

Sie haben sich eingesetzt für Sicherheitspartnerschaft in den Auftrittsorten des Zuges, also auch Demokratie und Toleranz angemahnt.

Das gehört für mich dazu. In erster Linie bin ich Demokrat, in zweiter Sozialdemokrat. Der Anachronistische Zug kann Gedanken des Dialogs der vor der Wende eine solche Rolle spielte, wiedererwecken. Ich sehe auch leider bei vielen politischen Freunden, dass sie derartiges verdrängen.

In manchen Städten versuchte man das Signal für den Zug auf Halt zu setzen. Gerüchte besagen, er soll nicht vor dem Reichstag einlaufen.

Ich habe überlegt, ob man den Zug nicht lieber lassen sollte, angesichts der hilflosen Gewalttätigkeit, die sich gegen Minderheiten und Linke breitmacht. Leider gerade in ehemaligen Stammwahl-Ländern der SPD, Thüringen, Sachsen, Sachsen-Anhalt. Wir dürfen uns jedoch nicht von einem scheinbaren Mehrheitswillen erpressen lassen. Wenn der Zug ordentlich angemeldet ist, dann würde ich es für ein ausgesprochen undemokratisches Verhalten ansehen, ihn zu verbieten.

Ihre Funktion als Polizeibeauftragter erledigt sich in der kommenden Woche. Gehen Sie befriedigt oder im Zorn?

Ich gehe mit Trauer. Vieles habe ich nicht bewirken können, obwohl alle Fraktionen der Stadtverordnetenversammlung hinter der Institution des Beauftragten standen. Ich hoffe auf die Beibehaltung dieses Amtes.

Die SPD trägt in Berlin ein Gutteil Verantwortung für die "sozialen Verwerfungen". Das zwingt zu der Frage: Wo, Herr Böhme, haben sie Ihre Heimat innerhalb der SPD?

Ich stehe nicht PDS-nah, nicht CDU-nah, . . .

Gut, also wo?

In einem linken Spektrum der SPD. Ich will alles tun, dass diese Positionen gestärkt werden.

Ein schwieriges Wegstück . . .

Ich spreche über Visionen.

Auch über Prognosen für den Sonntag?

Selbst, wenn ich sie hätte, würde ich sie nicht aussprechen.

Neues Deutschland, Sa. 01.12.1990

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