Ibrahim Böhme: "Zuerst bin ich Demokrat"

MORGEN-Gespräch mit dem Berliner Polizeibeauftragten über "die Unfähigkeit von Politikern"

Der Sozialdemokrat Ibrahim Böhme gehört zu den ungewöhnlichen Köpfen der sanften Revolution des vergangenen Jahres. Ein Querdenker, der von einem Teil seiner Partei als "parlamentarisches Sicherheitsrisiko" bezeichnet wird, von der Basis aber immer noch als Hoffnungsträger.

Der MORGEN fragte den Politiker, Polizeibeauftragter von Ostberlin, nach seinen An- und Absichten.

MORGEN: Das letzte Jahr verdient wohl das Attribut "historisch". Nun sind Sie Historiker . . .

BÖHME: Ich bin auch Marxist, und habe nicht die Absicht, das zu leugnen. Ich muss mit so vielen Menschen leben, also müssen die auch ertragen, dass ich meine Gesinnung nicht verstecke.

MORGEN: Wenn wir unsere Gesinnung wieder verstecken, dann wäre sowieso alles zu spät, oder?

BÖHME: Ich glaube, dass jetzt viele, die links stehen, in einem demokratischen Sinne (ich betone immer, dass ich zuerst Demokrat bin und dann einer Partei angehöre) ihre Gesinnung aus Angst verstecken. Für Angst habe ich wie für jede menschliche Regung Verständnis. Aber ich sehe die Gefahr, dass ein völlig unwägbarer Konservatismus Gesamtdeutschland für längere Zeit bestimmen wird, und dann die Gefahr, dass viele von den vollmundigen Solidarerklärungen in Westeuropa in Bausch und Bogen untergehen. Ich befürchte außerdem immer einen Fatalismus von früheren Linken. Damit meine ich die konservative Partei SED und die Erscheinung, dass viele Linke sich zurückziehen und meinen, alles aus der Vogelperspektive oder von einem anderen Planeten betrachten zu müssen.

Was sich hier in der Mainzer Straße abspielt, kann man nicht einfach von einem noch so klugen Kosmopolitismus aus betrachten. Da muss man sich schon mit den Menschen solidarisieren, die vor einem sozialen Hintergrund: ihre Probleme haben. Ein Phänomen, das wahrscheinlich in der nächsten Zeit in Berlin Dimensionen annimmt, die sehr kompliziert sein werden.

MORGEN: Wie realistisch sind Ihre Befürchtungen?

BÖHME: Ich zähle nicht zu den Politikern, die den heißen Herbst herbeireden, aber man muss den Tatsachen ins Auge schauen. Ich halte nichts von Randalierenden, die das Leben anderer - auch Polizisten sind Bürger - bedrohenden Vermummten, die unserer friedlichen Demonstrationskultur jetzt einen Touch geben, der wieder eine Eskalation von Gewalt darstellt.

Ich halte aber auch nichts von Polizisten oder Polizeiführern, die sich unangemessen ihrer Haut wehren. Vor allem halte ich überhaupt nichts von Politikern, die wortbrüchig werden. Und in der Mainzer Straße ist man wortbrüchig geworden, auf beiden Seiten. Doch ist der Polizeieinsatz in der Mainzer Straße im Moment noch nicht so weit geprüft, dass man vor die Presse gehen sollte. Allgemein gilt: Wenn wir eine bürgernahe Polizei wollen, müssen wir akzeptieren, dass Bürger die Polizei und ihre Einsätze kritisch betrachten. Dazu verlange ich in den nächsten Tagen eine konkrete Benennung der politisch Verantwortlichen. Und die Analyse des erreichten Verhandlungsstandes zwischen den Besetzern und dem Bezirksbürgermeister Helios Mendiburu.

MORGEN: Wie sehen Sie die Rolle von Herrn Mendiburu?

BÖHME: Das ist einer der Sozialdemokraten, auf die ich wirklich stolz bin und dessen Arbeit von Monaten mit den Hausbesetzern Erfolg hatte. Und er schaffte es, bei den anwohnenden Bürgern um Verständnis zu werben.

Ich glaube, dass eine Herausforderung an friedliche Hausbesetzer, wie sie hier stattgefunden hat, nichts mit kritischer Kultur und Demokratie zu tun hat. Vor allem bin ich schockiert über die Talk-Runde im Fernsehen, N3, vorige Woche, wo nicht mal ein Verantwortlicher aus Ostberlin vertreten war.

MORGEN: Sie als Polizeibeauftragter sind nicht eingeladen worden?

BÖHME: Auch Innenstadtrat Krüger nicht - zu einer Runde, in der man sich nur über Angemessenheit und Unangemessenheit von Gewalt gegen Hausbesetzer unterhielt und nicht einen Satz fand über den sozialen Hintergrund dieser eskalierenden Gewalt oder für - die jungen Leute.

Ich bin allerdings auch der Meinung, dass man mit angemessenen Strafen Menschen zur Verantwortung ziehen soll, die von Dächern Steine auf Polizisten werfen. Immerhin musste die Polizei hier wieder einmal herhalten für die Unfähigkeit von Politikern, Probleme zu lösen.

MORGEN: "Mainzer Straße, Berlin", das hätte ein Symbol für Konfliktfähigkeit werden können . . .

BÖHME: Unbedingt. Denn es gab dort produktive Ansätze für alternatives Zusammenleben von unterschiedlichen Leuten, auch Generationen. Betrachten wir nur die Hausbemalung, - es waren schöne Sprüche dabei, auch von Kästner, Tucholsky und anderen.

Außerdem bleibt das Problem der vielen Leerwohnungen, wenn ab 1. Januar nächsten Jahres für Menschen mit Mindestlöhnen unbezahlbare Mieten kommen. Das muss man heute schon erkennen und Möglichkeiten für Lösungen schaffen.

Nochmal zu den Besetzern: Da ist die Frage, wie verhindern wir die Eskalation von Gewalt und: Wie werden Polizeieinsätze durchschaubar?

MORGEN: Sind Sie nicht unglücklich über ihren Posten als Polizeibeauftragter gewesen? Sie wollten ihn nur bis zum 2. Dezember behalten . . .

BÖHME: Ich war nicht glücklich. Ich hab mich lange Zeit schwergetan. Aber wenn es in den nächsten Tagen keine Aufhellung um die Mainzer Straße gibt, die uns die Chance gibt, auch daraus zu lernen, muss ich mein Amt demonstrativ zur Verfügung stellen.

MORGEN: Warum eigentlich immer Sie?

BÖHME: Vielleicht denken Sie, ich gefalle mir in der Rolle des Verlierers; trotzdem stehe ich zu meinem Wort.

MORGEN: Ist die "Mainzer Straße" nicht auch ein Bruch der Koalitionsvereinbarungen, die SPD und AL im Westteil eingegangen sind?

BÖHME: Richtig. Das betrifft auch die Polizeihoheit. Die Polizei untersteht einer gemeinsamen Führung, alle Ermittlungs- und Einsatzvorgänge liegen in der Verantwortung des Polizeipräsidenten Schertz, der in allen seinen Maßnahmen dem Innensenator rechenschaftpflichtig ist, aber in der gleichen Weise eine Abstimmung zu treffen hat mit Thomas Krüger, Stadtrat für Inneres (Ostberlin).

MORGEN: Was würden Sie heute als wichtigstes politisches Defizit bezeichnen?

BÖHME: Am meisten weh tut, dass wir jetzt gerade die Gelegenheit haben, nach unserer unterschiedlichen Geschichte, nach dem, was wir in den letzten Jahren erfahren haben, diesen ewigen, verdammten Kreislauf der Konfrontation von Polizei und Bürgern zu durchbrechen. Da sehe ich für mich die schlimmste Niederlage, dass es jetzt wieder eine Entwicklung von Feindbildern gibt, die zum Teil subtiler sind, beispielsweise von jungen Leuten überhaupt nicht zu differenzieren sind.

MORGEN: SPD, was bedeutet Sie Ihnen heute?

BÖHME: Die Partei hat in den 125 Jahren ihres Bestehens oft unter Beweis gestellt, dass sie eine Partei des breiten Spektrums, des Widerspruchs ist. Ich möchte dafür stehen, dass das so bleibt. Dass die SPD nicht zu einer Partei der einheitlichen Gefolgschaft einiger Führungspersönlichkeiten wird. In dieser Beziehung fühle ich mich im linken Flügel meiner Partei zu Hause.

Jetzt fahre ich in die Gethsemane-Kirche - fast wie vor einem Jahr - ‚ wo sich Betroffene und Verantwortliche der jüngsten Ereignisse den Fragen der Bürger stellen. Nur in einem solchen Dialog ist die Hoffnung zu erfüllen, dass Einiges von den Träumen des letzten Herbstes nicht vergeblich war.

Das Gespräch führte
Regina Mönch

Der Morgen, Nr. 270, Montag, 19. November 1990

AL – Alternative Liste, Die Grünen in Westberlin. Sie bildeten dort mit der SPD eine Koalition als die besetzten Häuser in der Mainzer Straße geräumt wurden. Danach war es mit der Koalition vorbei.
Zur Zeit des Interview war der Begriff "Querdenker" ein Gütezeichen.

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