"Wenn alle gehen wollen, weil die Falschen bleiben..."

Norbert Gansel fordert von SPD Umdenken in der Deutschlandpolitik: Statt "Wandel durch Annäherung" "Wandel durch Abstand"

Die Massenflucht von DDR-Bürgern über Ungarn in die Bundesrepublik hat in der SPD eine neue Diskussion darüber ausgelost, wie die Partei mit der Staatsmacht in der DDR und der Staatspartei SED in Zukunft umgehen soll. Dabei gehen die Meinungen offenbar weit auseinander Norbert Gansel, der Vorsitzende des Parteirates der SPD, ist der Meinung, dass an die Stelle der bisher erfolgreichen Politik des "Wandels durch Annäherung" eine Strategie des "Wandels durch Abstand" treten muss. Nur so, meint Gansel, könne man die Verantwortlichen in der DDR dazu bringen, sich einer grundlegenden Reform ihres Systems nicht werter zu widersetzen. Wir veröffentlichen heute den Rede-Text von Norbert Gansel, den er am Montag dieser Woche vor dem Berliner SPD-Landesverband Rahmen einer deutschlandpolitischen Debatte in kürzerer Form vorgetragen hat.

"Wandel durch Annäherung" hieß Egon Bahrs Formel für die deutsch-deutschen Beziehungen. Sie kennzeichnet als Strategie und Analyse die Deutschlandpolitik von 1983 bis 1989. Die Sozialdemokraten sind diesem Entwurf in der Regierung gefolgt. Der Grundlagenvertrag unter Brandt und die vielen Einzelabkommen und -verträge unter Schmidt waren ihr Ergebnis. Die Berlin-Regelungen wären ohne sie nicht möglich gewesen. Die Christdemokraten haben in der Opposition daraus einen Vorwurf gemacht. In der Regierung galt für sie dann das "Weiter so!" Wer die Deutschlandpolitik der Wenderegierung [1] analysiert, stellt fest, dass sich hier nichts gewendet hat. Der Prozess der Normalisierung zwischen bei den Staaten lief weiter. Honeckers Besuch bei Kohl war der optische Höhepunkt jener Phase "Wandel durch Annäherung". Beide deutschen Staaten sind sich nähergekommen, in ihren Beziehungen hat sich vieles zum Besseren gewandelt. Für die nächste Phase der Deutschlandpolitik gilt aber nicht "Wandel durch Annäherung", sondern "Wandel durch Abstand"! Diese Phase wird keine 25 Jahre dauern — vielleicht nur zweieinhalb Jahre.

"Wandel durch Annäherung" bezog sich auf die zwischenstaatlichen Beziehungen. Das Ziel dieser Politik war Entspannung. Die Annäherung im Zentrum Europas trotz Spannung zwischen Blöcken war als deutsch-deutsche Verantwortungsgemeinschaft gegenüber SS 20 und Pershing II eine historische Leistung. Sie ist schon Geschichte.

Die Gegenwart wird durch einen anderen Wandel bestimmt, durch den innen politischen Wandel in der Sowjetunion, in Polen und in Ungarn, der in der DDR ausbleibt. Auf der Prioritätenliste steht nicht mehr nur Sicherheit, sondern vor allem mehr Freiheit. Gorbatschow macht Innen-Weltpolitik und verändert dadurch die Welt-Außenpolitik vielleicht der historische Schritt zur Weltinnenpolitik. Sie wäre die ultima ratio gemeinsamer Sicherheit. Mit der inneren Reform gibt der Kommunismus sein Feindbild auf. "Der Westen" verliert es. Die atomare Abschreckung mit der Androhung gegenseitiger totaler Vernichtung kann politisch überwunden werden. Die Bomben und Raketen können drastisch reduziert werden. Sie bleiben, aber verlieren an Schrecken. Die Ängste bleiben, aber die Vernunft gewinnt an Kraft für eine gerechte Weltwirtschaftsordnung, für Umweltschutz, für Demokratie und Frieden im planbaren Maßstab.

Kein Rüstungskontroll- und Abrüstungsabkommen kann im Westen soviel Sicherheit schaffen wie die Entwicklung von Demokratie und Lebensstandard im Osten. Keine einseitige Abrüstungsmaßnahme schafft im Osten soviel Sicherheit wie eine westliche Investition in ihren ökonomischen Reformprozess. Schließlich sagt das eherne Gesetz des Kapitalismus, dass Kapitalinvestitionen Rendite bringen müssen. Rendite aus dem Osten setzen aber Frieden voraus und Kapitalanlagen schaffen und zeigen Vertrauen und Sicherheit - so einfach ist das! - . . . könnte es sein.

Im Zentrum Europas gibt es ein Volk - zwei Staaten - die Deutschen - die diesen Prozess in Frage stellen. Die deutsche Frage stellt sich wieder, auch wenn sie nicht auf der Tagesordnung internationaler Konferenzen steht: Macht Gorbatschows Politik "die Wiedervereinigung" möglich? - So fragen sich mehr oder weniger hoffnungsvoll die Deutschen und mehr und mehr besorgt ihre Nachbarn und Verbündeten in Ost und West.

Nach unserer, offiziellen Politik und dem Willen der Deutschen kommt nichts anderes in Frage als "Wiedervereinigung in Freiheit". Das ist eine typisch deutsche Forderung. Alles oder nichts! Nichts hat diese Forderung bewirkt. Die Annäherung hat dagegen humanitäre Verbesserungen und Fortschritte in zwischen staatlichen Politikfeldern vom Umweltschutz bis zum Zahlungsverkehr gebracht. Das Zusammengehörigkeitsgefühl der Deutschen hat sie, wenn nicht gestärkt, so doch wenigstens erhalten. Die Wiedervereinigung wurde vor sich hingeschoben. - Nur aufgeschoben?

Das Grundgesetz wurde verfasst, wie es in der Präambel heißt, mit der Aufforderung an das "gesamte deutsche Volk, in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden", "von dem Willen beseelt, seine nationale und staatliche Einheit zu wahren". Die offizielle Politik machte daraus das "Wiedervereinigungsgebot des Grundgesetzes", obwohl das Grundgesetz nirgendwo von der "Wiedervereinigung" spricht. Ein solches Gebot ist obsolet, auch wenn versucht wird, es durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu perpetuieren.

Ich bin dagegen, diese Präambel zu ändern - aus Respekt vor den Nöten, aus denen diese Republik entstanden ist, und vor den Frauen und Männern, die diese Präambel verfasst haben. Diese Präambel ist 40 Jahre, nachdem sie geschrieben wurde "um dem staatlichen Leben für eine Übergangszeit eine neue Ordnung zu geben", ein ehrwürdiges Denkmal und Mahnmal. Es gibt daran nichts zu restaurieren und zu modernisieren. Eine Handlungsanweisung oder gar eine Fessel für die Deutschlandpolitik ist die Präambel nicht.

Die "staatliche Einheit" verstanden die Mütter und Väter des Grundgesetzes noch in den Grenzen von 1937, also unter Einschluss der ernst deutschen Ostgebiete, die nach dem Warschauer Vertrag die Westgebiete Polens sind. Mit der "Freiheit Deutschlands" war 1949 die Souveränität gemeint, die damals noch nicht einmal die Bundesrepublik besaß. Der Aufforderung, "die Einheit . . . zu vollenden", hätte damals durch eine Wiedervereinigung der Westzonen und der Ostzone wenigstens zum Teil - auch ohne die Teile unter polnischer und sowjetischer "Verwaltung" - nachgekommen werden können. 40 Jahre später ist eine einfache Wiedervereinigung nicht mehr möglich. So wie die beiden Teile Deutschlands heute sind, waren sie nie vereinigt. Nach 40 Jahren sind beide zu ihrer Geschichte und zueinander anders. Vorstellbar wäre allenfalls eine Neu-Vereinigung.

Die Aufforderung, "die Einheit . . . Deutschlands zu vollenden", erging an "das gesamte deutsche Volk, das "in frei er Selbstbestimmung" handeln sollte. Die "Voll-Endung" der Einheit - eine List der Vernunft - könnte auch in ihrer Be-Endung liegen, wenn sich die Deutschen "in freier Selbstbestimmung" dafür entscheiden. Aber "freie Selbstbestimmung" bleibt uns aufgegeben. Für die Politik liegt darin eine Verpflichtung, der sich keine Regierung in der Bundesrepublik, keine Partei, kein Politiker entziehen kann. Die "freie Selbstbestimmung" war in der Präambel als ein Völkerrecht in Anspruch genommen. Allein als Volk werden wir dieses Recht nie einklagen können. Deshalb klagt die offizielle Politik ja auch nur "Freie Selbstbestimmung" als demokratische Freiheit mit natur- und menschenrechtlicher Qualität - übrigens eine Grundüberzeugung des demokratischen Sozialismus - könnte erreichbar sein für alle Deutschen und wäre eine Verpflichtung, die dem Wortlauf der Präambel entspricht. Diese Verpflichtung ist durch die deutsche und internationale Politik so lange nicht erfüllt, wie die Deutschen in der DDR nicht frei entscheiden können. Insofern ist die deutsche Frage offen und jede Antwort ist nur vorläufig.

In welcher Weise und mit welchem Inhalt könnte diese deutsche Frage beantwortet werden? - Es ist banal und notwendig zugleich, den Deutschen immer wieder in Erinnerung zu rufen, dass sie nicht alleine in Europa sind, und dass ein vereinigtes Deutschland für seine Nachbarn, für die USA und die UdSSR, eher Anlass zu Besorgnissen und Ängsten als zu Hoffnung und Vertrauen ist. Erhard Eppler hat für eine solche Erinnerung am 17. Juni [1989] im Bundestag den Beifall aller Fraktionen erhalten. Es ist uns also wohl bewusst, aber begreifen wir es auch wirklich?

Eine Volksabstimmung in der Bundesrepublik und in der DDR über eine Neu-Vereinigung liegt außerhalb der realistischen Chancen der Weltpolitik. Ihr Ausgang wäre übrigens noch nicht ein mal sicher. Volksabstimmungen mit konkreten Auswirkungen auf den Lebensstandard in der Bundesrepublik von der Arbeitsplatzsicherheit bis zum Rentenniveau sind etwas anderes als Meinungsbefragungen. Das reale Interesse der Bundesbürger an ihrem Lebensstandard, das schon in peinlicher Weise gegenüber ein paar 100 000 Aus- und Übersiedlern artikuliert wird, könnte sehr wohl stärker sein als ihre nationalen Gefühle gegen über 18 Millionen Mitdeutschen. Sie verfügen schließlich über mehr als dreimal soviel Stimmen wie die Brüder und Schwestern in der DDR. Und theoretisch denkbar wäre ja auch, dass sich in der in der DDR eine Mehrheit gegen eine Vereinigung aussprechen könnte. Ein "Anschluss" der DDR-Bürger gegen ihren Willen ist aber doch wohl undenkbar. Denkbar erscheint mir nur die Vorstellung, dass demokratisch gewählte Gremien in der Bundesrepublik und in der DDR irgendwann einmal einen Zeitplan für eine Vereinigung im Laufe eines Jahrzehnts aushandeln und beschließen. Das ist denkbar, aber nicht realistisch.

Realistisch erscheint mir, dass sich die Deutschen "in freier Selbstbestimmung" innerhalb einer europäischen Friedensordnung für zwei deutsche Staaten entscheiden, deren Verhältnis zueinander konfliktfrei und innig sein könnte bei wahrscheinlicher Zugehörigkeit zu unterschiedlichen Wirtschafts- und Gesellschaftssysteme, die in einem System kollektiver Sicherheit und offener Grenzen miteinander verbunden sind. Das war noch vor drei Jahren Utopie. Heute ist es eine reale Utopie. Es könnte das Ziel einer realistischen Deutschlandpolitik werden.

Den Prozess zur freien Selbstbestimmung der Deutschen in der DDR zu stärken, das ist der Wandel der heute gefordert ist. Die historische Chance der Freiheit, die sich in der Folge der Politik Gorbatschows erstmals eröffnet, kann nur dann genutzt werden, wenn wir auf die chancenlose Vereinigung verzichten, wenn wir den anderen deutschen Staat akzeptieren, dessen Verfassungswirklichkeit aber anders sein muss als heute.

Die Deutschen in der DDR brauchen mehr Freiheit. Freiheit als individuelles Menschenrecht, Freiheit als gesellschaftlichen Produktivitätsfaktor, Freiheit als eine Mindestvoraussetzung für Identifikation mit dem Staat, Freiheit auch, um die deutsche Frage erträglich für die Deutschen und ihre Nachbarn beantworten zu können. Je weniger Freiheit es in der DDR gibt, desto offener bleibt die deutsche Frage.

Eine DDR, die sich von der Demokratisierung und der ökonomischen Reform in Osteuropa und der Sowjetunion abkoppelt, ist unter den sich entwickelnden Verhältnissen ein Destabilisierungsfaktor für diesen Prozess selbst und für die europäische Ordnung und Sicherheit. An der inneren "Stabilität" der DDR, so wie sie zur Zeit ist, kann deshalb niemand ein Interesse haben - außer den Betonköpfen im Herrschaftsapparat der SED. Die DDR braucht den inneren Wandel.

Das würde auch dann gelten, wenn es die spektakuläre Massenflucht der vergangenen Monate nicht gegeben hätte. Ob es nun die Verlockungen der Freiheit und/oder des Konsums sind, die Zehntausende zur Flucht aus der DDR bewegen, ist für unsere Bewertung der äußeren Emigration nicht entscheidend. Sie ist jedenfalls keine Option für die deutsche Nation, sondern eine individuelle Lebensentscheidung, die wir zu respektieren haben. Für die Staatlichkeit der DDR ist die innere Emigration vor allem der DDR-Jugend viel gefährlicher, obwohl sie für die Herrschenden bequem ist. Die innere Opposition in Bürgerinitiativen, in kirchlichen Gruppen und auch im SED-Apparat empfindet die Nomenklatura zu Recht als Bedrohung ihrer Position und ihrer Privilegien. "Massenfreiheit statt Massenflucht", wie es jüngst auf Transparenten in Leipzig stand, ist wohl nicht nur eine Option für Heimat, sondern auch für die DDR, die sich allerdings wandeln muss vom SED-System nachstalinistischer Prägung zum Reformkommunismus und später vielleicht zum ersten sozialistischen Staat auf deutschem Boden. Noch eine Utopie?

So aussichtslos wären die Chancen einer DDR nicht. Noch vor einem Jahr auf dem Höhepunkt internationalen Respekts schien sich in der DDR eine Identifikation mit dem Staat herauszubilden, die weit über die Kader und Überzeugten der SED hinausging. Auch drüben gibt es Stolz auf eine Aufbauleistung. Das Bildungs- und Sozialsystem gibt Chancengleichheit und Sicherheiten. Arbeitslosigkeit ist im Gegensatz zur Bundesrepublik kein brennendes Problem. Der Lebensstandard ist höher als in den anderen Staaten des RGW. Selbst in der Liberalisierung war die DDR für eine kurze Zeit an der Spitze unter den kommunistischen Staaten. Es gibt neuere Ansätze für individuellen Rechtsschutz gegenüber Behörden. Das mitmenschliche Klima - und das ist eine ungewollte Leistung der SED - wird auch von DDR-Flüchtlingen oft als angenehmer als in der Bundesrepublik beschrieben. - Warum sollte sich auf deutschem Boden nicht ein nichtkapitalistisches System bewähren können?

In der jüngsten Zeit sind neue Entwicklungen aufgebrochen. Die Umweltzerstörung durch den zentralistischen Produktionsapparat führt zu Bürgerprotesten. Der Zerfall der Altstädte, die Unfähigkeit zur Altbausanierung, trifft nun auch den geliebten Lebensraum in der Provinz. Der Abstand im Lebensstandard zur überschäumenden Konsumgesellschaft in der Bundesrepublik wird durch die Westmedien empfangen und durch verbesserte Reisemöglichkeiten erfahrbar. Gegenüber den politischen und ökonomischen Reformprozessen in der Sowjetunion, in Ungarn und Polen wird der Rückstand der DDR schmerzhaft bewusst.

Und schlimmer: In der DDR bewegt sich nichts. Die SED-Vertreter hängen die DDR erklärtermaßen vom Zug der Demokratisierung ab. Die DDR Bürger haben es satt: die offizielle Verlogenheit der Presse, die Bespitzelung durch den Stasi, das allgemeine Misstrauen durch den Staat, die Geiselpraxis bei Reisen in den Westen, die Starrheit und Sturheit der totalen ökonomischen Planung, die Ignorierung des Leistungswillens durch die Bürokratie, die tägliche Bevormundung durch Funktionäre, den undemokratischen und manipulativen Zentralismus bei sogenannten Wahlen - mit anderen Worten: den Mangel an Freiheiten und Freiheit.

Aber am schlimmsten empfinden die, die gehen, weil sich nichts ändert, und die, die bleiben und etwas ändern wollen, die Hoffnungslosigkeit der Situation. Wenn die Deutschen in der DDR mehr Freiheit und mehr Hoffnung erhielten, wäre nicht die DDR gefährdet, - wohl aber ihre Nomenklatur. Damit alle bleiben können, müssen einige gehen. Die DDR ist nur dann zur Disposition gestellt, wenn alle gehen wollen, weil die Falschen bleiben. Die DDR-Führung will nichts ändern. Die Sowjetunion will sie, kann sie vielleicht nicht mehr dazu zwingen. Nur die innere Opposition könnte den Wandel in der DDR bewirken, den sie braucht.

Wenn wir in der Bundesrepublik diesen Wandel fördern wollen, ist nicht mehr Annäherung gefordert, sondern mehr Abstand. Von der Annäherung auf staatlicher Ebene muss nichts zurückgenommen werden. Aber gegenüber der DDR-Führung ist auf Abstand zu gehen.

Annäherung zwischen beiden Staaten ist eine zwischenstaatliche völkerrechtliche und diplomatische Beziehung. Sie wird durch staatliche Repräsentanten ausgehandelt und besiegelt. Auf unserer Seite wirken pluralistische Kräfte, Medien, Wirtschaft, Parlamente und Parteien mit. Auf der anderen Seite gibt es nur die Einheit von SED und DDR-Staat. Jede Vereinbarung, die ja im gegenseitigen Interesse abgeschlossen wird, im humanitären, im wirtschaftlichen und politischen Interesse, akzeptiert auch die Vertretungsmacht der Gegenseite. Das ist notwendig und unvermeidbar. Vermeidbar ist, dass damit auch Personen aufgewertet werden, die - zugespitzt - für die Ursachen der Schäden verantwortlich sind, deren Folgen durch solche Vereinbarungen nur gemildert werden können.

In den letzten beiden Jahren sucht die DDR-Führung nach der zwischenstaatlichen Anerkennung ihrer Vertretungsmacht außen die Legitimität, die ihr im Innern (wieder) aberkannt wird. Wer sich auf staatlicher Ebene der Bundesrepublik darauf im Stil und in der Symbolik einlässt, entmutigt die innere Opposition der DDR. Abstand halten! Fototermine mit den Betonköpfen der SED sind Bärendienste für den inneren Wandel in der DDR.

Ich bin weiter für Gespräche und Verhandlungen mit der DDR-Führung. Es ist aber kein Unglück, wenn Unterschiede in Sachfragen deutlicher werden und Formelkompromisse nicht als Erfolg ausgegeben geben werden müssen. Es ist auch keine Katastrophe, wenn einmal ein Termin platzt. Verstöße gegen die KSZE-Vereinbarungen müssen öffentlich gerügt werden.

Man wird entgegenhalten, dass dadurch Verhandlungen über legale Ausreise und Freikauf von Häftlingen erschwert wird. Aber die DDR hat an solchen Abschlüssen ein finanzielles und ein politisches Interesse. "Wir ersparen - ganz bewusst, wenn auch nicht gewollt - dem DDR-Regime die Auseinandersetzung mit ihrer innerstaatlichen Opposition, indem wir jeden DDR-Bürger (Flüchtling oder Ausgebürgerten) aufnehmen. Die DDR muss ihre Oppositionellen nicht ertragen, sie weist sie aus", so hat der Berliner SPD-Abgeordnete Ehrhart Körting in einer mutigen Analyse geschrieben. Wir wollen die Ausreisewillen nicht zum Bleiben zwingen, aber auch nicht zum Gehen ermutigen. Es kann nicht schaden, wenn unsere Politik deutlich macht, dass wir lieber einzelne Freiheiten in der DDR kaufen würden, als dass wir einzelne freikaufen. Vielleicht gibt es ja dafür doch ein (nichtöffentliches) operatives Feld. Kein Preis wäre dafür zu hoch.

"Wandel durch Abstand" kann nicht nur auf der hohen Ebene versucht werden, sondern auch im Rahmen kommunaler Partnerschaften. Nur wenn sie aus dem Funktionärskreis herauskommen, leisten sie in der gegenwärtigen Situation einen Beitrag zur Vertrauensbildung. Sie müssen also Gespräche mit oppositionellen Gruppen möglich machen, auch wenn sie die DDR-Repräsentanten verärgern. Es gibt in der DDR eine Reihe angesehener Kommunalpolitiker, die freie Wahlen nicht scheuen müssten. Warum sollten wir uns scheuen, beim Austausch kommunaler Delegationen, die im Verfahren und Ergebnis manipulierten Kommunalwahlen der DDR anzusprechen? - Den demokratischen Abstand zwischen diesen Wahlen und den zu gleicher Zeit in der Sowjetunion und Polen durchgeführten Wahlen deutlich zu machen, wäre ein bescheidener Beitrag zum Wandel in der DDR, aber gewiss kein überflüssiger.

"Abstand halten" gilt auch für das Verhältnis zwischen Bundestag und Volkskammer. Der Bundestag hat enge Kontakte zu einigen ausländischen Parlamenten, die demokratisch nicht legitimiert sind. Das ist vertretbar zur eigenen Information der Parlamentarier; das kann auf diplomatischem Gebiet den Regierungen nutzen; es kann auch Anstöße zur demokratischen parlamentarischen Entwicklung geben. Nichts anderes galt für die Beziehungen zur Volkskammer. Ob das auch noch gilt, nachdem die Polen und die Sowjets den Deutschen vorgemacht haben, dass man auch in einem kommunistischen Staat wählen kann, ist zumindest eine berechtigte Frage. Wenn diese Frage öffentlich zum Thema gemacht wird zwischen Bundestagsabgeordneten und Volkskammerabgeordneten, sind ihre Kontakte sinnvoll. Über den einstimmigen Beschluss der Volkskammer, durch den sie sich mit den brutalen Maßnahmen der chinesischen Führung gegen die studentische Demokratiebewegung identifizierte, muss hart und öffentlich gestritten werden. Das Verhältnis zwischen Bundestag und Volkskammer darf nicht so gestaltet werden, dass es in der DDR als Respektierung ihrer undemokratischen Auswahlmechanismen missverstanden werden könnte.

Auf Wandel drängen und Abstand halten gilt in diesem Sinne auch für die Beziehungen zwischen gesellschaftlichen Organisationen, insbesondere für unsere Parteien. Von den Kontakten der CDU/CSU und der FDP hört man und weiß man nicht viel. Insbesondere für die Konservativen wäre es von ihrer Wiederbereinigungsrhetorik ein weiter Weg bis zu konstruktiven Beiträgen zum inneren Wandel und zur demokratischen Stabilisierung der DDR. Verblüffend ist deshalb eine Äußerung des außenpolitischen Beraters des Bundeskanzlers Horst Teltschik, der in der Süddeutschen Zeitung am 9. September mit der Äußerung zitiert wird: "Die deutsche Frage ist nicht unbedingt identisch mit der Frage der Wiedervereinigung; sie kann auch definiert wer den als Forderung nach Selbstbestimmung der DDR-Bürger in ihrem Land, in einer 'anderen DDR'." - Die CDU könnte damit eine Kursänderung um 90 Grad in ihrer Deutschlandpolitik eingeleitet haben. Das könnte in der Schicksalsfrage der Deutschen zu einer neuen Gemeinsamkeit führen.

Diese Gemeinsamkeit würde auch die Grünen einschließen. Den Grünen gebührt öffentlicher Respekt für den Mut und die Beständigkeit, mit denen sie ihre Beziehungen zu oppositionellen Personen und Gruppen in der DDR gestaltet haben. Sie haben für die Umweltbewegung, für die demokratischen Regungen an der Basis der DDR und für das deutsche Zusammengehörigkeitsgefühl einen vielleicht historischen Beitrag geleistet, der so ganz im Gegensatz zu der Etikettierung steht, die sie in der offiziösen Politik der Bundesrepublik erhalten.

"Wandel durch Abstand” statt "Wandel durch Annäherung" - das scheint für die SPD ein Bruch mit ihrer 25 Jahre lang betriebenen Deutschlandpolitik zu bedeuten. Es ist kein Bruch, aber es ist mehr als eine Akzentverschiebung. Heute muss es um den innenpolitischen Wandel in der DDR gehen, nicht um Außenpolitik. Dazu muss Abstand von den Reformgegnern in der DDR gehalten werden.

Nach dem Bau der Mauer verkündete Willy Brandt am 24. August 1961 den Beschluss des Berliner Landesverbandes der SPD, die damals noch in Ost-Berlin bestehenden SPD-Kreise mit über 6 000 Mitgliedern aufzulösen: "Dies war die härteste und bitterste Entscheidung, die ich in meiner Amtszeit als Landesvorsitzender der Berliner SPD habe treffen müssen. Der kommunistische Terror war so unerträglich geworden, dass uns keine andere Wahl mehr blieb, als unsere Freunde im östlichen Teil der Stadt aus ihren Verpflichtungen zu entlassen, um sie nicht länger zum Freiwild von Ulbrichts Leuten zu machen."

Das war der deutsche Höhepunkt des kalten Krieges. In der DDR betonierte sich das Herrschaftssystem der SED ein, während in Osteuropa die Zeichen noch immer auf Entstalinisierung standen.

Drei Jahre später beschrieb Egon Bahr in Tutzing den inneren Zustand der DDR: "Nun kann es kaum einen Zweifel geben, dass Änderungen in der Zone besonders schwer zu erreichen sind. Die Zone ist in der politischen Entwicklung zurückgebliebener als Polen, Ungarn und die Sowjetunion. Und das hat seine Gründe. Ulbricht konnte sich halten, nicht obwohl, sondern gerade weil er der letzte Stalinist ist. Die Erfahrungen des Jahres 1953 haben dem Kreml gezeigt, wie gefährlich es in seinem Sinne ist wenn in der deutschen Zone Erleichterungen für den Menschen gewährt werden. Denn gerade weil es sich um den Teil eines gespaltenen Volkes handelt, schlagen anders als in Polen oder in der Sowjetunion soziale und wirtschaftliche Forderungen sofort um in politische und in nationale." Folgerichtig erklärte Egon Bahr: "Die Wiedervereinigung ist ein außenpolitisches Problem". Es entspräche "der realen Lage, wenn innerhalb der Bundesregierung nicht das Ministerium für gesamtdeutsche Fragen, sondern das Auswärtige Amt für diesen Komplex zuständig" würde".

Dem Tutzinger Entwurf Egon Bahrs entsprechend haben die sozialdemokratischen Bundesregierungen unter Brandt und Schmidt Deutschlandpolitik als Außenpolitik betrieben. Die Normalisierung der Beziehungen zwischen beiden deutschen Staaten ist vertraglich geregelt worden. Das war ein entscheidender Beitrag zur Entspannung in Europa und zu humanitären Erleichterungen für die Deutschen in Ost und West. Die konservative Bundesregierung unter Kohl hat diese Leistungen nicht in Frage gestellt. Sie hat wie die SPD in der Regierung die Deutschlandpolitik als Außenpolitik fortgesetzt.

Das war richtig. Weniger richtig war es, dass die SPD in der Opposition mit dem Selbstverständnis einer Regierungspartei an dem Verständnis der Deutschlandpolitik als Außenpolitik weitgehend festgehalten hat. zwischen der SED und der SPD wurden Arbeitsgruppen eingerichtet, die Pläne produzierten, für eine C-Waffen-freie Zone in Europa, für einen atomwaffenfreien Korridor und anderes mehr. Zur Zeit wird über defensive Strukturen der Streitkräfte und eine neue defensive Doktrin für die jeweiligen Bündnisse gearbeitet. Ich sage nicht, dass diese Arbeiten falsch oder auch nur vergeblich waren. Sie waren in der internationalen Spannungsphase des "Nachrüstungs"-Streits ein produktiver Beitrag zur deutsch-deutschen Verantwortungsgemeinschaft und zur Entspannung im Zentrum Europas. Sie hätten von der Bundesregierung und von den Bündnissen konstruktiv aufgenommen werden können. Aber die Fixierung auf den Rüstungswettlauf zwischen Ost und West verdrängte in der SPD Erkenntnismöglichkeiten für den Selbstwert der Demokratisierungsbewegung im Osten und für ihre Bedeutung in Bezug auf Rüstungskontrolle, Abrüstung und den vertrauensbildenden Prozess.

Das "Streitpapier", das im Sommer 1987 zwischen der Grundwertekommission der SPD und der Akademie für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED vereinbart wurde, und das die Parteigremien der SPD zwar nicht beschlossen, aber zustimmend zur Kenntnis genommen haben, stellt insofern eine Wende dar, als es im Gegensatz zu den anderen ausgehandelten Papieren die "Notwendigkeit einer Kultur des politischen Streits und des Dialogs" postuliert. Hier wird Deutschlandpolitik sozusagen als regionale "Weltinnenpolitik" verstanden. Es werden „Ansätze und Grundregeln für eine Kultur des politischen Streits“ zwischen den Gesellschaftssystemen der Bundesrepublik und der DDR geschaffen. Aber auch hier wird als wichtigste gemeinsame Aufgabe beschrieben, "die Dynamik der Aufrüstung zu stoppen und eine Dynamik der Abrüstung in Gang zu setzen".

Das ist heute noch wichtig. Wichtiger aber ist heute, zum demokratischen Wandel in der DDR beizutragen. Im Streitpapier ist dieser Ansatz zwar vorhanden, doch spielt das Wort "Freiheit" im Text nur eine beiläufige Rolle. Und die notwendige Demokratisierung der DDR wird eher indirekt angesprochen. Solche Zurückhaltung liegt sicherlich im Wesen eines gemeinsamen Papiers, aber sie entsprach auch noch dem Geist der Zeit jenes Jahres 1987. Dennoch hat dieses Papier für die interne Diskussion in der DDR eine nicht zu überschätzende Bedeutung gehabt. Und es ist auch heute noch in der DDR ein starkes Argument gegen die SED-Bürokratie für eine pluralistische Diskussion. Aber so, wie das Papier 1987 verfasst wurde, würde es heute nicht wieder abgefasst werden, oder es würde schwerlich in der SPD die überwiegende Zustimmung erhalten, die es 1987 verdient hatte.

Man kann davon ausgehen, dass bei der Vereinbarung des Streitpapiers die Interessen auf Seiten der SPD und der SED durchaus unterschiedlich waren. Während die SPD einen pluralistischen Diskussionsprozess mit und in der DDR anstrebte (eine offene pluralistische oder demokratische Diskussion lag damals noch im Rahmen des vorstellbar Erreichbaren), wollte es die SED-Führung zum Ausweis ihrer Liberalisierung nach außen und im Innern als ein Element der Legitimierung durch die Sozialdemokratie nutzen. Diese sozialdemokratische "Gegenleistung" war 1987 verantwortbar. 1989 ist sie es nicht mehr. Heute ist die SPD aufgefordert, alles zu unterlassen, was den Reformunwilligen in der SED-Führung zusätzliche Legitimation verschafft. Die SPD muss im Gegenteil offen und öffentlich auf Demokratisierung in der DDR drängen und Abstand zu denjenigen in der SED und in der DDR-Führung halten, sich solcher Bewegung entgegenstellen.

Ich verlange nicht den Abbruch aller Kontakte mit der SED. Aber ich erwarte, dass wir ihnen eine andere Qualität geben. Von solchen Kontakten, und sie müssen öffentlich sein, muss eine ermunternde, schützende Wirkung ausgehen für die, die auch in der DDR mehr Demokratie wagen wollen. Im Juni 1989 hat dir Parteivorstand der SPD auf Initiative Hans-Jochen Vogels "Grundsätze für die Wahrnehmung von Kontakten mit der SED und deren Gliederungen sowie mit Institutionen, Parteien, Organisationen und Gruppierungen in der DDR" beschlossen. "Dabei dürfen Unterschiede und Gegensätze nicht verwischt, vielmehr müssen sie durch sachliche, aber entschiedene Darstellung der eigenen Position verdeutlicht werden. Zur Vertiefung der Information und des kritischen Dialogs ist bei Gelegenheit, solcher Kontakte auch das Gespräch mit kirchlichen Gruppen, Vertretern abweichender Meinungen, mit Einzelbürgerinnen und -bürgern notwendig und erwünscht."

Sozialdemokraten haben schon in den vergangenen Jahren wie die Grünen und auf anderen Ebenen als die Grünen Kontakte mit kirchlichen und anderen oppositionellen Gruppen in der DDR unterhalten. Das geschah meist im Rahmen "stiller Diplomatie". Solche Kontakte müssen verstärkt und öffentlich gemacht werden. Auch die Spitze der SPD muss sich dabei engagieren. Die SED- und DDR-Führung muss gefordert werden.

Immer wieder wird von uns gehofft und verlangt, die DDR möge nach dem Vorbild der Sowjetunion Glasnost und Perestrojka wagen. Glasnost und Perestrojka gehören in die Begrifflichkeit der politischen Ingenieurwissenschaft: Reform von oben durch die Bürokratie und gegen die Bürokratie. In der Sache geht es schlicht und einfach um Freiheit - persönlich, ökonomisch und politisch: Informationsfreiheit, Meinungsfreiheit, Organisationsfreiheit, Wahlfreiheit und Entscheidungsfreiheit. Im deutsch-deutschen Verhältnis wird wahrscheinlich erst danach die Freizügigkeit kommen. Für die DDR ist sie das größte Wagnis, und man könnte ihr zugestehen, sie erst dann zu wagen, wenn sie aus Erdehrungen mit anderen Wagnissen Sicherheit gewonnen hat. Aber wagen muss sie es, und keine Partei ist wie die SPD berechtigt und verpflichtet zu verlangen, dass in der DDR mehr Demokratie gewagt wird.

Frankfurter Rundschau, Nr. 212, Mi. 13.09.1990, S. 10, Dokumentation

[1] Am 1. Oktober 1982 wurde Helmut Kohl zum Bundeskanzler gewählt. Er sprach von einer geistig-moralischen Wende.

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