"Favoritenrolle meiner Partei bei der Wahl?
Das beantworte ich mit einem klaren Ja."

Vor einem Vierteljahr, genau: am 7. Oktober, in Schwante bei Berlin mit einem personellen "Startkapital" von 43 Leuten gegründet, schätzt der Geschäftsführer der SPD der DDR den Mitgliederstand seiner Partei gegenwärtig auf 45 000 bis 50 000. Mit Ibrahim Böhme (Jahrgang 1948) führten Reiner Oschmann und Peter Kirschey am Sonnabendabend das folgende Interview:

ND: In Kommentaren nach Ihrer kürzlichen Delegiertenkonferenz hieß es, dass man bei der SPD im Vergleich zu den anderen neuen Parteien und Formationen wenigstens wisse, woran man mit ihr ist. woran sind wir mit dieser Partei? Ibrahim Böhme: Als wir uns am 7. Oktober 1989 illegal in Schwante gegründet hatten, sind wir davon ausgegangen, dass wir eigentlich mehr Zeit haben, das an Theorie zu leisten, was die Praxis heute erfordert. Aber keiner, in der Welt hat sich gedacht, dass die Strukturen so schnell auseinander laufen, zerfasern und dass so vieles parallel zueinander zu leisten ist. Sicherlich hat sich demzufolge von Schwante aus einiges an unseren Aussagen modifiziert, aber ich freue mich eigentlich darüber, dass uns Grundaussagen bis heute erhalten geblieben sind.

Außenpolitisch ist das europäische Haus zu gestalten, ohne ein west- oder osteuropäisches, süd- oder nordeuropäisches Volk auszulassen. Die beiden deutschen Staaten haben dabei eine besondere Verantwortung, die sich auch aus der Geschichte der beiden deutschen Staaten herleitet.

Wir können beibehalten, dass die soziale Marktwirtschaft das Grundprinzip wirtschaftlichen Handelns in ökologischer Verantwortung sein sollte. Vor der großen Wende wurden wir selbst von Freunden aus der Opposition mit Häme bedacht. Wir wissen ja, dass der Begriff soziale Marktwirtschaft nicht nur positiv besetzt ist. Heute haben die soziale Marktwirtschaft eigentlich fast alle Parteien und Gruppierungen bis hin zur SED-PDS auf ihre Fahnen geschrieben.

Wir sind bei dem ökologisch bewussten Handeln durchaus: auf dem richtigen Dampfer gewesen. Wir wissen, dass gerade auf diesem Gebiet in der nächsten Zeit mit Sachkompetenz sehr viel zu entscheiden ist. Unsere Frage zum Ausländerrecht ist richtig gestellt und auch richtig beantwortet worden.


"Sofortmaßnahmen, um nicht noch mehr Menschen außer Landes gehen zu lassen"


Wir haben im Bereich der Kulturpolitik und der Bildungspolitik meines Erachtens den richtigen Kurs gesteuert, und ich freue mich eigentlich, dass wir mit dem neuen Namen SPD eine Linie haben, die sich auch im Wahlkampf fortsetzen wird.

ND: Zur Problematik deutsche Einheit. Auf der Delegiertenkonferenz wurde hierzu ja eine Erklärung verabschiedet. Welche Fristen haben Sie im Auge?

Böhme: Es ist im Moment sehr schwer, von Zeiten zu sprechen. In Schwante sind wir aber noch von einem längeren Zeitraum ausgegangen. Ich glaube, dass das alle Deutschlandkenner getan haben, und es gibt ja einige, die noch einen langen Zeitraum ins Auge fassen, auch sozialdemokratische Politiker.

Prinzipiell haben wir uns immer zur Einheit der deutschen Nation bekannt. Doch wir wollen nicht so tun, als hätten wir keine Geschichte, die anzufragen wäre. Das heißt, diese Einheit der deutschen Nation ist zu gestalten in Verantwortung. Persönlich habe ich, noch in Schwante, gedacht, das wird etwa fünf bis zehn Jahre dauern. Mittlerweile, da ich mich der Not gehorchend, nicht dem eigenen Triebe folgend, intensiv mit Ökonomie beschäftigen muss, wird mir klar, dass diese Einheit eher ins Haus stehen wird.

Ich glaube, dass wir in zwei bis drei Jahren am europäischen ECU (Währungseinheit) hängen werden, dass wir im europäischen Binnenmarkt bereits in zwei bis drei Jahren sind. Ich glaube auch, dass es in den nächsten zwei, drei Jahren noch möglich ist, dass die Deutsche Demokratische Republik selbst Bedingungen stellen kann beim Einstieg in den Währungs- und Wirtschaftsverbund und dass dies in fünf, sechs, sieben Jahren bei verfehlten Experimenten nicht mehr der Fall sein wurde.

ND: Welche inneren und äußeren Voraussetzungen müssten denn geschaffen werden, um diese Handlungsfähigkeit auf Seiten der DDR zu bewahren?

Böhme: Zuerst die äußeren Voraussetzungen: Das heißt für mich als erstes, den Anrainerstaaten die Angst vor der deutschen Einheit zu nehmen. Als zweites würde ich sagen, dass beide deutsche Staaten bald mit den Siegermächten einen Friedensvertrag erwirken. Zu den inneren Bedingungen: Wir stehen unter einem ökonomischen Handlungszwang. Ich sehe in dem Wähnungsverbund, in einer Wirtschaftskooperation etwas sehr Wichtiges für die nächste Zeit. Ich halte es für sehr wichtig, dass wir in den nächsten Wochen das Entscheidende tun, die Selbstbestimmung zu wahren. Ich glaube, zu den inneren Bedingungen gehört, dass auf vielen Gebieten auch parallel etwas zu leisten ist. Also beispielsweise auf dem Bildungsgebiet müssten Annäherungsmodelle geschaffen werden.

ND: Was schwebt Ihnen da konkret vor?

Böhme: Das bedeutet für mich vor allem in der DDR eine Entideologisierung des Unterrichts. Es bedeutet für mich in der Bundesrepublik beispielsweise, dass in einigen Bundesländern im Bildungswesen Demokratieinhalte in bestimmten Unterrichtsfächern neu zu befragen sind. Es bedeutet für mich auch, dass das Elternrecht in der DDR im Bildungswesen verstärkt wird. Das gehört zur Selbstbestimmung einer Bevölkerung. Vor allem muss unsere Ausbildung von Lehr- und Erziehungskräften überdacht werden. Ich glaube, dass unsere Lehrer nicht die glücklichsten sind.

ND: Herr Böhme, Sie sagten, Sie beschäftigen sich intensiv mit Ökonomie. Wie wollen Sie bei einer relativ raschen Vereinigung z. B. verhindern, dass die Spareinlagen der DDR-Bevölkerung nicht entwertet werden?

Böhme: Erstens müsste sehr bald der Kaufkraftüberhang durch Einfließen von Waren verkürzt werden.

ND: Auf welcher Basis ...?

Böhme: durch Soforthilfe. Die sozialdemokratisch regierten Bundesländer und Städte haben sich angeboten, sie haben bereits angefangen. Als zweites müsste infrastrukturell, vor allem was infrastrukturelle Technik anbelangt, unbedingt einiges geschehen. Also die Sofortmaßnahmen, um nicht noch mehr Menschen außer Landes gehen zu lassen. Denn es ist ja die größte Fehlinvestition, dass wir nicht die schlechtesten Facharbeiter ausgebildet haben und jetzt diejenigen gehen, sie in 10 oder 20 Jahren die Rente für ihre Eltern erwirtschaften müssten. Das heißt aber auch, dass die Leistungskriterien, das überalterte Prämienzeitlohnsystem in der DDR völlig überarbeitet werden müssen. Arbeit muss wieder etwas wert sein.

Weiter müssen langlebige Konsumgüter hergestellt werden, die auch dem hohen Preis gerecht werden. Das heißt also, die technologische Strecke müsste neu entwickelt werden. Auf ökonomischem Gebiet gibt es so viel zu tun, dass es sehr schwierig sein wird, das alles über einen längeren Experimentalzeitraum zu betrachten.

Ich möchte aber noch etwas sagen, was mir viel mehr Sorgen macht: die Demokratie im Produktionsbereich. Für mich steht die Frage, wer nimmt eigentlich bei dem wirtschaftlichen 'Run' der auf die DDR zukommt, die Interessen der Produzenten wahr. Und da sehe ich die fatale Situation, dass wir im Moment keine funktionstüchtigen Gewerkschaften und Betriebsräte haben.


"Wir können Gott, Marx und dem Ozonloch für den milden Winter danken"


Die Menschen bei uns haben ja nicht nur einen Parteien-, einen Staats-, sondern auch einen Gewerkschaftsverdruss. Wir haben solch - ein Eigentümerverhältnis geschaffen - wenn wir vom Volkseigentum sprachen - dass wir heute ein Eigentum ohne Eigentümer haben. Machen wir so weiter, haben wir demnächst Eigentümer ohne Eigentum. Und da sich die im Freien Deutschen Gewerkschaftsbund verbliebenen Werktätigen entschieden haben, den FDGB zu reformieren, von innen heraus zu einer echten Interessenvertretung zu machen, akzeptieren wir das nicht nur, wir begrüßen es. Und wir werden auf dem nächsten Bundeskongress auftreten und unsere Vorstellungen sagen. Was sehr bald geleistet werden muss, gerade bei dem, was ökonomisch ins Haus steht, das ist parallel zueinander ein Wirtschaftsstrukturgesetz und ein Betriebsverfassungsgesetz, in dem bei eindeutigem Bekenntnis zum Streikrecht - rechtlich gleichzeitig das Urabstimmungsprinzip festgeschrieben wird. Letzteres ist wichtig, wenn wir unsere Wirtschaft, auch nach dem 6. Mai, nicht unnötig gefährden wollen.

ND: Herr Böhme, lassen Sie uns nachhaken zu Ihrer Bemerkung über Soforthilfe. Sie denken da nicht so sehr an Handels- und Wirtschaftsvereinbarungen, sondern an Selbstlosigkeit?

Böhme Ja, an uneigennützige Aktionen, an Soforthilfe für die nächsten Monate.

ND: Wer soll uns die geben?

Böhme: Zum Beispiel die sozialdemokratisch Länder der BRD. Um ein Beispiel zu nennen: Nordrhein-Westfalen leistet im Moment bereits infrastrukturelle technische Hilfe für den Bezirk Leipzig. Das ist kein Problem, das werden Punkte sein, die bei aller Notwendigkeit einer als Einstieg in eine Konföderation, in den Gesprächen zwischen Helmut Kohl und Hans Modrow sofort vereinbart werden müssten.

Wir können doch Gott, Marx und dem Ozonloch danken, dass wir dieses Jahr einen so milden Winter haben, bei dem, was in unserer Wirtschaft ist und noch läuft. Aber natürlich bin ich auch interessiert an kommerziellen Wirtschaftsverbunden.

ND: Denken Sie bei diesen einseitigen Hilfsaktionen nur an die Bundesrepublik?

Böhme: In erster Linie ja. Doch wenn ich mir den Zustand der anderen osteuropäischen Staaten anschaue, dann meinte ich, dass, wenn wir schon von europäischer Solidarität sozialdemokratisch geführte Länder oder überhaupt westeuropäische Länder sich nicht nur auf die DDR konzentrieren sollten. Die DDR hat die große Chance, eine ökonomische Transmission und eine ökologische Transmission zu werden nach Osteuropa, um da nicht neue Wohlstandsgrenzen zu vertiefen.

ND: Welchen Bündnisstatus hielten Sie für ein vereinigtes Deutschland für erforderlich?

Böhme Ich würde am liebsten einen neutralen Status sehen, wobei ich da ganz optimistisch bin. Vor dem Hintergrund dessen, was sich im Moment auch in Osteuropa entwickelt, wird sich, glaube ich, die Bündnisfrage in den nächsten 5 bis 10 Jahren überhaupt erledigt haben. Meines Erachtens hat der Warschauer Vertrag im Moment nur noch einen Konsultativstatus, und die NATO wird gezwungen sein, ihre Verteidigungskonzeption völlig neu zu überdenken. Ich glaube, dass die Präsenz der sowjetischen Streitkräfte nicht erst in den nächsten 10 Jahren, so wie es der sowjetische Außenminister noch vor zwei Monaten benannte, zu Ende gehen wird, sondern dass die sowjetische Präsenz bei weiterer Entwicklung dieser siehe die letzten Verhandlungen in Wien, sich bedeutend eher erledigen wird und dass sich demzufolge auch die Präsenz der Westalliierten in Westeuropa, vor allem der USA, verringern wird.


"Heute nehmen wir Hilfe gern in Anspruch. Das sagen wir ganz offen."


ND: Für viele Menschen würde im Falle einer Vereinigung die einmalige geschichtliche Chance verloren gehen, dem kapitalistischen System der BRD eine echte Alternative entgegenzusetzen. Warum nicht engste Partnerschaft mit der BRD und dennoch Bewahrung eines eigenen Weges?

Böhme Ich glaube, man sollte eher daran denken, was Positives an DDR-Bewusstsein besteht und in ein einheitliches Deutschland eingebracht werden kann.

ND: Was wäre das vor allem?

Böhme: Ich habe zu dem Problem meine Ambivalenzen. Die Geborgenheit in der DDR ist eine belastende Geborgenheit gewesen für sehr viele Menschen, aber auch in dieser belastenden Geborgenheit haben sich Solidarstrukturen entwickelt, die man auf keinen Fall verlassen sollte. Wenn die Euphorie der Begegnungen von Deutschen aus den beiden Republiken verfliegt, wird alles sichtbar werden: unsere Hilflosigkeit, die tatsächliche ökonomische Situation, das Anfangen des Zerfaserns von Bildungs- und Kulturstrukturen, die im Moment auseinander laufenden Verwaltungen in den Kreisen und Bezirken ... all das ist nur zu überwinden mit Solidarstrukturen. Das vor allem sollte man mit einbringen.

ND: Die SPD der BRD hat "Betreuerbezirke" für die Schwesterpartei in der DDR benannt. Wie halten Sie es mit Ihrer Eigenständigkeit?

Böhme: Das stimmt, es gibt Patenschaften. Sie bestehen aber nicht in der Art, dass eine große Schwester einer kleinen nur das gibt, was sie meint geben zu müssen, sondern wir haben gesagt, wir nehmen, wir bitten sogar darum, die Wahlhilfe in Wahlkampfreden von Willy Brandt und Hans-Jochen Vogel, von Johannes Rau, Oskar Lafontaine usw. Wir bitten um diese Hilfe, aber Sie werden demnächst feststellen, dass Leute von uns auch im Wahlkampf in der Bundesrepublik, in Österreich, Schweden, in Brüssel und dergleichen auftreten werden. Die Termine werden im Moment vereinbart.

Sie werden als nächstes die Frage stellen, welche Wahlkampfhilfe bekommen wir in anderer Beziehung. Wir haben angefangen ohne ein Blatt Papier. Heute nehmen wir die technisch-materielle-Hilfe gern in Anspruch. Das sagen wir ganz offen.

ND: Ihre Partei verlangt die Selbstauflösung der SED-PDS. Warum billigen Sie dieser Partei keine Erneuerungsfähigkeit zu?

Böhme Ich habe einer Partei, das ist mein Demokratieverständnis, nicht zu sagen, was sie zu machen hat, ich kann dazu nur meine Meinung sagen. Ich habe mit großem Interesse den Programmatikansatz gelesen, den der Sonderparteitag der SED-PDS angenommen hat. In diesem Programmatikansatz fand ich sehr viel ausformuliert, was wir bereits am 7. Oktober erklärt hatten. Ich würde der SED-PDS raten: Wenn sie an einer Reformierung wirklich interessiert ist, möchte sie erklären: Wir gehen nach dem 6. Mai in die Opposition, um dort den Erneuerungsprozess zu realisieren.

ND: Ihre Partei streicht derzeit nur das Trennende zur PDS heraus. Historisch wie programmatisch wäre aber doch zumindest punktuelle Zusammenarbeit denkbar oder?

Böhme: Sie werden mir verzeihen, in einem wahrscheinlich sehr langen Zeitraum sehe ich die nicht. Ich halte es für ausgeschlossen, dass es ein politisches Zusammengehen gibt. In der nächsten Zeit, das bitte ich deutlich festzuschreiben, sehe ich keine Möglichkeit für ein Zusammengehen.

ND: Ihre persönliche Entwicklung widerspiegelt in ziemlich markanter Weise die problembeladene Entwicklung der DDR: Facharbeiter mit Abitur, SED-Mitgliedschaft, Sympathie mit Prager Frühling, Havemann etc. Mehr als 15 Monate in U-Haft in DDR-Gefängnissen, Gelegenheitsjobs usw. Haben Sie dabei den Glauben an das Wort Sozialismus verloren?

Böhme: Ich glaube an eine soziale Demokratie. Ich persönlich bin mit 17 1/2 Jahren in die SED eingetreten, wurde Kandidat, ich hatte die rote Ecke in der Puppenstube, und von dieser roten Ecke habe ich auch manches gelernt. Erst so ab 1967 kamen mir Zweifel am Führungs- und Machtanspruch der SED. 1976, nach der Sache Biermann, bin ich dann aus der Partei ausgetreten, und von diesem Zeitpunkt an ging mein Erkenntnisprozess immer mehr zur Sozialdemokratie, zur linken Sozialdemokratie.

ND: Ihre Haltung am Runden Tisch hat sich nach unserer Beobachtung ziemlich gewandelt. Erst, verzeihen Sie, eher rabiat, nun beinahe moderat. Wie sehen Sie das, wie ist Ihre Haltung zu Hans Modrow?

Böhme: Es ist keine Wandlung. Es war für mich ein Prinzip. Die ersten Runden Tische waren dazu da, die Kondition für die Verhandlungen festzuschreiben, das heißt also lange Geschäftsordnungsdebatten, und sie waren notwendig, um die Anwalts- und Kontrollfunktionen des Runden Tisches so zu gestalten, dass überhaupt Sachthemen sachlich behandelt werden können. Jetzt gehen wir an die Sachthemen, und da bin ich für ein Zuhören und für ein genaues Abwägen dessen, was man sagt.


"Wochenlange Koalitionsverhandlungen können wir uns im Moment nicht leisten"


Ich habe mittlerweile zwei Gespräche gehabt mit Hans Modrow und bedaure, dass er in einer für meine Begriffe falschen Partei steht. Ich würde mich freuen, wenn der Runde Tisch der Regierung Modrow, als geschäftsführender Übergangsregierung, die Loyalität erweist, die für die Stabilität der Regierung bis zum 6. Mai notwendig ist, weil die Regierung ja auch bei allem, was der Runde Tisch vorzulegen hat, nach meiner Meinung handlungsfähig bleiben muss. Von dieser Regierung ist im Moment viel zu leisten, aber die Loyalität des Runden Tisches hängt in einem hohen Maße davon ab, inwieweit die Regierung bereit ist, den Runden Tisch in seiner Anwalts- und Kontrollfunktion zu akzeptieren. Da fand ich seit den letzten beiden Zusammenkünften, speziell seit dem 15. Januar eine bedeutend höhere Qualität als bei den ersten Runden Tischen. Ich rechne es Hans Modrow persönlich hoch an, dass er am 15. Januar dem Runden Tisch seine Reverenz erwies und eine klare Erklärung abgegeben hat, wie die Regierung zum Runden Tisch steht. Ich bin mir auch darüber im Klaren, wenn die Regierung Modrow auseinander fallen sollte, sind die Wahlen vom 6 Mai in zweierlei Beziehung in Frage gestellt. Entweder muss es früher Wahlen geben oder aber die Gruppierungen und Parteien des Runden Tisches müssen sich mit der Regierung - und zwar alle, auch die jetzt ab und an ihre Absicht zum Austritt erklären alle Parteien des Runden Tisches müssten sich dann mit Hans Modrow über eine Notregierung verständigen. Die Regierung müsste sich dann, das wäre gefährlich bei unserer Situation, in wochenlange Koalitionsverhandlungen begeben, die können wir uns im Moment nicht leisten Ich wurde mich freuen, wenn sich der Zustand bis zum 6. Mai stabilisiert.

ND: Die SPD der DDR sieht sich nach eigenen Worten bereits als Wahlsieger im Mai. Sehen Sie sich als neuen Regierungschef?

Böhme: Im Moment kommen so viele sachkompetente Persönlichkeiten in die SPD, in den Bezirken und Kreisen, dass es sehr schwer sein wird, Spitzenpolitiker für die Wahl auszuwählen. Aber Favoritenrolle für meine Partei? Das beantworte ich mit einem klaren Ja.

Neues Deutschland, 45. Jahrgang, Ausgabe 19, 23.01.1990. Die Redaktion wurde 1956 und 1986 mit dem Karl-Marx-Orden und 1971 mit dem Vaterländischen Verdienstorden in Gold ausgezeichnet.

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