"Man tanzt nicht auf einem Vulkan"

Fragen an den marxistischen Gesellschaftswissenschaftler Jürgen Kuczynski zum vorläufigen Ende seiner Illusion

Vor einem Jahr hat Jürgen Kuczynski dem eben vorn Thron geschubsten Erich Honecker einen Brief geschrieben. Zweiundneunzig Worte braucht der marxistische Soziologe, um dem "lieben Erich" in einem Satz zu erklären, dass, obwohl er einerseits der "wohl schärfste öffentliche Kritiker unserer Verhältnisse in den letzten Jahren" gewesen sei, Honecker auch künftig bei jedweder "Kleinigkeit" auf ihn zählen könne. Kuczynskis Begründung für die Dankbarkeitsneurose auch über den Sturz Honeckers hinaus: Den Stalinismus mit umgekehrten Vorzeichen wolle er nicht mitmachen. So ist es nicht verwunderlich, dass er heute ein aus gewiesener Apologet Honeckers" genannt wird.

Auch die Tagebuchblätter "Schwierige Jahre" bestätigen diese Meinung: Den Kommunisten, so Kuczynskis, waren stets drei Dinge heilig, nämlich Marx, Lenin und ihr gegenwärtiger Generalsekretär. Hier findet man auch die Antwort auf die Frage, warum es eine nennenswerte Opposition innerhalb der SED nie gegeben hat.

MORGEN: Die DDR hat aufgehört zu existieren. Wie erklärt sich ein marxistischer Gesellschaftswissenschaftler das Versagen von Theorie und Praxis?

KUCZYNSKI: Die ganz ausgezeichnete Bewegung gegen die bornierten Machthaber ging ja bis zum November 1989 nach vorne los. Dann gelang den antisozialistischen Kräften in der Bundesrepublik zu verhindern, dass man von einem Sozialismus, der zugleich ein absolutistischer Feudalismus war, zu einem wirklichen Sozialismus überging. Solche Prozesse laufen in der Geschichte öfter ab. In Norditalien gab es 1400 den ersten Frühkapitalismus, dann folgten 400 Jahre Feudalismus. Ähnlich war es in Deutschland.

Heute wird diese Entwicklung schneller gehen und ich habe schon jetzt eine Vorfreude auf den künftigen Sozialismus, wenn ich ihn auch nicht mehr erleben werde.

MORGEN: Das heißt, Sie haben die Entwicklung der letzten Monate erwartet?

KUCZYNSKI: Die Ereignisse ab Dezember 1989 habe ich in keiner Weise für möglich gehalten. Das, was im letzten Herbst bis zum November geschah, habe ich lange vorausgesehen und versucht zu befördern. Aus meinen jetzt veröffentlichten Tagebüchern geht hervor: ich spreche während des gesamten Jahres 1989 davon, dass es zu einer Explosion kommen muss. Kurz vor dem 7. Oktober bekam ich nach langem Schweigen von Erich Honecker eine Einladung zu der Festveranstaltung. Aber ich habe abgesagt: Man tanzt nicht auf einem Vulkan.

MORGEN: Wie konnte eine Gesellschaft, die von sich behauptete, auf wissenschaftlicher Grundlage zu stehen, derart realitätsfremd werden?

KUCZYNSKI: Man hat Wissenschaft mit Propaganda verwechselt. Vor vielen Jahren erzählte mir der ungarische Philosoph Fagarasi, KP-Chef Rakoczi habe ihm erklärt, seine Aufgabe bestehe darin, die Beschlüsse des Politbüros philosophisch zu interpretieren. In ganz hohem Maße war die Rolle der Wissenschaft in der DDR dieselbe. Auch in der Wirtschaft hörte man nicht auf kompetente Stimmen. Wir haben uns, entgegen internationalen Entwicklungen, reine Monopolbetriebe geschaffen. Dabei kann kein Mensch ernstlich gegen Marktwirtschaft sein, also auch nicht gegen Konkurrenz. Es kommt nur darauf an, inwieweit soziale Aspekte eine Rolle spielen.

MORGEN: Die Zeiten von Gnade und Ungnade, in der Jürgen Kuczynski stand, wechselten. Trotzdem liest sich der "Dialog mit meinem Urenkel", ihr populärstes und stark kritisiertes Buch heute wie eine Sammlung von Andeutungen.

KUCZYNSKI: Ja. Sie müssen die Zeit sehen, in der das Buch entstand. Ich habe es 1977 geschrieben. Dann kam die Anweisung, dass die Erinnerungen alter Genossen vor der Veröffentlichung "ganz oben" gelesen werden müssen. Das hat beim "Dialog" sechs Jahre gedauert. Dann erst kam das Manuskript mit zahlreichen Anweisungen zu Änderungen zurück, die ich geschickt, wie ich hoffe, befolgt habe.

MORGEN: Trotz der ständigen Differenzen mit offiziellen Stellen hatten Sie ein besonderes Verhältnis zu Erich Honecker, dankten ihm sogar noch 1988 für die "einzigartige Souveränität", mit der er das von ihm "zum Teil kritisierte Buch förderte".

KUCZYNSKI: Nennen Sie mir einen westlichen Staatsmann, der ein Buch förderte, obwohl es ihm nicht gefiel!

MORGEN: Ich kenne keinen, der eins verboten hat.

KUCZYNSKI: Das Kommandosystem und die Zensur ließen nur drei Möglichkeiten zu: Entweder eine Veröffentlichung wurde gefördert, gerade noch geduldet oder verboten.

Nachdem Honecker das Buch gelesen hatte, unterhielten wir uns darüber. Natürlich war er nicht begeistert, fand meine Kritik an den Massenmedien unpassend. Wir haben fast eine Stunde diskutiert und uns nicht einen Hauch genähert. Trotzdem hat er, als keine 2. Auflage erschien, dafür gesorgt, dass wir das Buch insgesamt in 260 000 Exemplaren verkaufen konnten. Das war allerdings die letzte erfreuliche Unterhaltung, die ich mit ihm hatte.

Dietmar Ostermann

Der Morgen, Nr. 247, Mo. 22.10.1990

Δ nach oben