Dokumentation

Bis hierher und nicht weiter!

"Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen."

Grundgesetz Artikel 14.2

1. Die regierende Politik in unserem formal vereinten Land ist in einem Zustand von gnadenloser Ungerechtigkeit, Sozialverschleiß und fehlenden Perspektiven versunken. Im fünften Jahrzehnt ihrer Existenz wird in der Bundesrepublik der soziale Konsens, auf dem ihr Erfolg beruhte, durch radikale Umverteilung zugunsten der Einfluss-Reichen zerstört. Der Kalte Krieg gegen den Sozialstaat hinterlässt eine andere Republik. Der Notstand ständig steigender Arbeitslosigkeit führt Staatshaushalte und Sozialversicherungssysteme in die Krise, und der öffentliche Schuldendienst vermehrt den Reichtum der Banken und der Besitzer großer Geldvermögen. So entsteht Macht, die nicht demokratisch legitimiert ist. Es handelt sich nicht um einen Konjunktureinbruch, vielmehr stehen wir mitten in einem Epochenwechsel. In dieser Lage müssen sich in unserem Land alle gesellschaftlichen Kräfte zusammenfinden, die bereit und imstande sind, die Verantwortung für die soziale Demokratie mit der Bindung an ein soziales Europa zu übernehmen.

2. Gerechtere Verteilung der Einkommen und Güter ist die zentrale Aufgabe einer neuen Politik. Die deutsche Einheit wird zum massivsten Umverteilungsprozess von unten nach oben seit Bestehen der Bundesrepublik missbraucht.

3. Wir brauchen eine andere Politik, also brauchen wir eine andere Regierung. Wer sie will, muss aus der Zuschauerdemokratie heraustreten. Wir brauchen eine außerparlamentarische Bewegung. Sie muss auf die Opposition in den Parlamenten überspringen. Die Erfahrung von 1968 und der Geist von 1989 sind für 1998 aufgerufen, den Machtwechsel herbeizuführen. Resignation löst kein Problem. Sie richtet nur Schaden an. Viele denken: Bis hierher und nicht weiter! Wir brauchen eine Regierung, die das Volk nicht als Gegner behandelt, dessen Widerspruch es zu brechen gilt.

4. Wir brauchen eine andere Politik. Oberstes Ziel muss das Überwinden der Massenarbeitslosigkeit sein. Es fehlen in der Bundesrepublik sechs bis sieben Millionen Arbeitsplätze. Die Gründe dafür liegen nicht im mangelnden Export. Auch nicht bei den Lohnstückkosten und angeblich überteuerten Sozialpflichten. Sie liegen bei der enorm gestiegenen Produktivität, den rückläufigen Wachstumsraten und den versäumten Konsequenzen für die Arbeitszeit. Auch fehlt es an Binnennachfrage und vorausschauendem Management.

Die Schulden der einen sind die Gewinne der anderen: Jede Schuldenmilliarde der öffentlichen Hände macht Bund, Länder und Kommunen abhängiger von den Geldgebern. Kapital ist reichlich vorhanden: Neuneinhalbtausend Milliarden Mark macht die Summe der persönlichen Vermögen in der Bundesrepublik aus. Die Hälfte davon gehört zehn Prozent der Haushalte. Zugleich wirken angekündigte Massenentlassungen wie Siegesmeldungen an der Börse. Sie treiben die Aktienkurse nach oben und machen die Aktionäre zu Profiteuren der sozialen Perspektivlosigkeit der Arbeitslosen. Die herrschende Politik zerteilt die sozial begründete Republik. In ihrem Polarkreis erstarrt das Eintreten füreinander.

- Wenn Notstand an Arbeit herrscht, muss sie neu und gerecht verteilt werden, durch weitere radikale Verkürzung der Arbeitszeit bei angemessenem Lohnausgleich.

- Die Bekämpfung der Massenarbeitslosigkeit muss sich an dem Leitbild eines neuen Typs von Vollbeschäftigung für Männer und Frauen orientieren. Die Erwerbsarbeit der Zukunft muss auf gesellschaftlichen Nutzen und ökologische Nachhaltigkeit verpflichtet werden. Finanzierung von Arbeit statt Arbeitslosigkeit.

- Wir brauchen den Einstieg in eine ökologische Steuerreform, und wir brauchen Reformen des Sozialstaats, die den Namen verdienen.

- Statt die "Zwänge" der deregulierten Güter- und Kapitalmärkte als Schicksal hinzunehmen, brauchen wir eine Regierung, die handelt.

5. Wie ist das alles finanzierbar? Ein einziges Kriterium würde Entscheidendes ändern: Steuerehrlichkeit. Die Finanz- und Steuerpolitik muss ihren Kurs korrigieren. Geldtransfers, Gewinne, Groß-Erbschaften, Vermögen, Spekulationen mit Grund und Boden und Umweltzerstörung müssen spürbar stärker besteuert werden. Durch einen gesetzlichen Ausgleich der Lasten zwischen West und Ost, Alt und Jung, Erben und Armen kann die Bundesrepublik um vieles humaner werden.

6. Gebraucht wird eine Opposition, die den Wechsel mit allen Kräften will. Sie kann nur aus den bisher getrennten Oppositionskräften entstehen. Kein Nichtberührungsgebot darf sie schrecken, zumal die amtierende Macht sich in eigener Sache keineswegs darum schert: Der Kanzler versichert Reformsozialisten für Osteuropa seiner Freundschaft. Im Inneren der Republik sind Reformsozialisten für ihn der böse Feind, obwohl seine Regierung 1990 und 1994 mit Kadern der vier früheren SED-Schwesterparteien die Mehrheit errang. Allzu schnell hat sich die veröffentlichte Meinung darüber hinwegtäuschen lassen. Wir brauchen eine Regierung, die ohne inneres Feindbild regiert. Das Gut- Böse-Schema aus der Zeit der Systemkonfrontation kann das Vollenden der Einheit nicht leisten.

Von der SPD fordern wir: Mut zur Opposition auf ganzer Linie. Die Mehrheit der Bevölkerung traut ihr mehr Gerechtigkeit zu, aber noch nicht die Entschlossenheit zur Macht, sie auch zu verwirklichen.

Vom Bündnis 90/Die Grünen fordern wir: Den begonnenen Weg der Überwindung ihrer "Ein- Punkt-Kompetenz" (Ökologie) fortzusetzen. Sie sollte auch Kontur als soziale Reformkraft gewinnen und den Eindruck widerlegen, sie wolle die FDP ersetzen.

Von der PDS fordern wir: Ihre Positionen zum historisch gescheiterten Sozialismusmodell weiter zu klären. Es geht nicht um Demutsgesten und den Verzicht auf antikapitalistische Strömungen. Es geht um demokratische Zuverlässigkeit bei aller Entschiedenheit, eine demokratisch-sozialistische Kraft zu sein.

7. Wir brauchen eine andere Regierung. Unzählige sagen sich heute: Grundlegendes muss sich verändern. Und viele fragen sich: Wer soll das tun, wenn nicht wir, und wann, wenn nicht jetzt. Wir brauchen ein Bündnis für soziale Demokratie. Lassen wir uns an der Schwelle zum neuen Jahrtausend den Wert von Visionen nicht ausreden, und beginnen wir zu handeln.

Erfurt/Berlin, 9. Januar 1997

Die Unterzeichner: Prof. Dr. Elmar Altvater; Frank Castorf; Daniela Dahn, Schriftstellerin; Prof. Dr. Ulrich Duchrow, Landeskirchlicher Beauftragter für Mission und Ökumene; Ulrike Duchrow, Studienrätin; Dr. Dr. Heino Falcke, Probst i.R.; Matthias Freitag, Bezirksvorsitzender der Eisenbahner-Gewerkschaft Thüringen und Sachsen; Jürgen Fischbeck, Physiker; Max von der Grün; Stefan Heym; Prof. Dr. Rudolf Hickel; Prof. Dr. Walter Jens; Dr. Inge Jens; Dieter Kelp, Pfarrer; Toni Krahl, Rockmusiker; Dieter Lattmann, Schriftsteller; Dr. theol. Gerhard Liedke; Marion Liedke, Oberstudienrätin; Prof. Dr. Peter von Oertzen; Prof. Dr. Norman Paech; Ulrich Plenzdorf; Bodo Ramelow, HBV-Vorsitzender Thüringen; Dr. Edelbert Richter, Theologe, MdB; Prof. Dr. Horst Eberhard Richter; Dr. Erika Runge; Herbert Schirmer, Kulturminister a.D.; Gisbert Schlemmer, Vorsitzender Gewerkschaft Holz und Kunststoff; Horst Schmitthenner, Geschäftsführendes Vorstandsmitglied IG Metall; Friedrich Schorlemmer; Prof. Dr. Dorothee Sölle; Frank Spieth, DGB-Vorsitzender Thüringen; Eckart Spoo; Prof. Dr. Uwe Wesel; Gerhard Zwerenz

aus: taz Nr. 5124 vom 10.01.1997


Im Oktober 1997 fand in der Erfurter Augustinerkirche ein zweitägiger Kongress zur "Erfurter Erklärung" statt. Wolfgang Schäuble von der CDU sah in den Initiatoren "Erfurter Erklärung" Wegbereiter für eine neue Volksfront.


Δ nach oben