Methode des Runden Tisches nutzen!

Bürgerbewegungen, Gewerkschaften und Verbände müssen Kräfte bündeln

Durch die voreilige Einführung der D-Mark, durch die für unsere Industrie und Landwirtschaft äußerst ungünstigen Vertragsabschlüsse der DDR-Handelsketten mit westdeutschen Partnern und durch ungenügende gesetzliche Regelungen, die die Wirtschafts- und Sozialunion sowie die Eigentumsfrage betreffen, wurden Prozesse in Gang gesetzt, auf die die Mehrzahl der Bürger und Institutionen dieses Landes in keiner Weise vorbereitet waren.

Die jetzt eingetretenen Folgen wie anwachsende Arbeitslosigkeit, steigende Aggressivität im Umgang miteinander, Zunahme der Anzahl von Bürgern mit Zukunftsängsten erfordern eine Konzentration der Bürgerbewegungen, Gewerkschaften und Verbände auf lösbare kurz- und mittelfristige Zielstellungen. Alle Ideen und Aktivitäten sollten auf die Überwindung dieser Art "erlernter Hilflosigkeit" konzentriert werden. Ermunterung zur Selbstorganisation und Eigeninitiative zur Problembewältigung müssen verstärkt Mittel unserer Arbeit werden. Beenden wir deshalb schnellstens alle in unserer Herausbildungsphase notwendigen und verständlichen Abgrenzungs- und Profilierungstendenzen untereinander. Nutzen wir alle Formen der außerparlamentarischen Arbeit und verschenken gleichzeitig nicht potentielle Möglichkeiten des Eingriffs in parlamentarische Arbeit! Neben der Unterstützung und Mitarbeit in Bürgerinitiativen vor Ort (Selbsthilfegruppen, Stadtteilinitiativen) muss die Arbeit in allen regionalen und über- regionalen Verbänden und sich herausbildenden Interessengruppen mehr Gewicht bekommen (Gewerkschaften, Personal- und Betriebsräte, Arbeitslosenverband, Verbraucherorganisationen, Mieterbund). Hierbei kann dringend benötigte Sachkompetenz durch kollektive Problemlösung erworben werden, Fähigkeiten zur Ausübung der direkten Demokratie werden ausgebildet, und wir haben die Möglichkeit, unsere Erfahrung mit den Runden Tischen als Methode zur Losung widerstreitender Interessen für breitere gesellschaftliche Gruppen zu propagieren.

An zwei Beispielen soll dies skizziert werden: An dem vom Arbeitslosenverband ins Leben gerufenen Runden Tisch aller Parteien und Organisationen gelang es in relativ kurzer Frist, ein Wirtschafts- und ein Sozialkonzept zu erarbeiten, die auf wichtige Schritte orientieren, die für Übergangsprogramme notwendig wären, um sozial verträgliche Lösungen für alle Gruppen der Gesellschaft gewährleisten zu können. Ein schneller Konsens der über 50 beteiligten Parteien und Organisationen konnte dabei nicht zuletzt deshalb gefunden werden, weil in kleinen Arbeitsgruppen zwischen den Sitzungen des Runden Tisches Entwürfe vordiskutiert und erarbeitet wurden.

Ein zweites Beispiel soll stärker auf den Handlungsbedarf von Runden Tischen für die Lösung von Problemen hinweisen. Mit der Herausbildung von Einzelgewerkschaften und ihrem gleichzeitigen Konkurrieren in den Betrieben können Konflikte untereinander entstehen, die z. B. Fragen der Personalvertretungen oder gemeinsame Tarifabschlüsse betreffen. Wäre nicht ein Runder Tisch von Einzelgewerkschaften und dem Arbeitslosenverband sinnvoll, an dem versucht wird, Tarifabschlüsse und Dynamisierung des Arbeitslosengeldes in ein gemeinsames Rahmenkonzept einzubetten?

H.-J. Selle
Demokratie Jetzt

PODIUM – Die Seite der und für die BürgerInnen-Bewegungen, Initiativen und Minderheiten in der Berliner Zeitung, Nr. 219, Mi. 19.09.1990

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