Arbeitgeberverpflichtung zur Qualifizierung im IG-Metall-Tarifvertrag

Bald jeder zweite ohne Arbeit

Gespräch mit Burkhard Bundt, verantwortlich für Bildung, IG Metall, Verwaltungsstelle Berlin

• Ein Schwerpunkt des Tarifvertrages, den die Metaller Ost unter Dach und Fach bringen konnten, ist die Devise: Qualifizieren statt entlassen. Wie kam das zustande?

Wie wohl jeder weiß, haben die meisten Betriebe in der Metall-und Elektrobranche große Probleme, wieder auf die Beine zu kommen. Sehr vielen wird das zunächst nicht gelingen. Unsere Prognosen besagen, dass im nächsten Jahr im Ostteil Berlins 100 000 Arbeitnehmer und im gesamten Land Brandenburg 250 000 Menschen arbeitslos sein werden. Mit anderen Worten: Jeden zweiten trifft es. Das ist natürlich eine Situation, auf die die Gewerkschaft reagieren muss. Wir meinen, dass nur entlassen nicht im Interesse der Wirtschaft und nicht im Interesse des einzelnen ist. Andersherum wird ein Schuh draus: Die Kollegen müssen qualifiziert werden, damit einerseits ihre Chancen auf dem Arbeitsmarkt wachsen und andererseits durch qualifiziertes Personal die Wirtschaft angekurbelt werden kann. In allererster Linie kommt es aber auf jeden selbst an, zum Beispiel die Kurzarbeit zu nutzen, um sich weiterzubilden.

• Nun ist es aber kompliziert, sich im Angebot der Bildungsträger zu orientieren?

Das stimmt. Die freien Bildungsträger haben sehr unterschiedliche inhaltliche Konzepte. Da ist es natürlich für den einzelnen schwierig, das für ihn Effektive herauszusuchen. Außerdem kann ja niemand sagen, ob nach einer Qualifizierung auch ein entsprechender Arbeitsplatz zur Verfügung steht. Die andere Seite ist: Mittlerweile gibt es viele Kurzarbeiter, die sich mangels Kapazitäten der Bildungseinrichtungen nicht qualifizieren können.

• Im Tarifvertrag steht eindeutig, dass die Verantwortung für eine Weiterbildung und Anpassungsqualifizierung während der Kurzarbeit dem Betrieb obliegt. Aber damit scheint es Schwierigkeiten zu geben . . .

Ja, diese Tatsache ist uns bekannt. Darunter leidet - und das muss ich kritisch sagen - natürlich die Glaubwürdigkeit des Tarifvertrages. Der legt eindeutig eine Beschäftigungsgarantie bis Mitte nächsten Jahres fest, mit dem Zusatz, dass wer in Kurzarbeit geht, die Möglichkeit zum Lernen haben sollte. Damit haben sich die Arbeitgeber einverstanden erklärt. Aber die sind, was konkrete Bildungsangebote betrifft, noch sehr zögerlich. Diese Haltung ist uns unverständlich, zumindest was die Betriebe angeht, die überleben werden. Hier ist doch im höchsten Maße Qualifizierung angesagt, insbesondere in den kaufmännischen Bereichen.

• Manche Betriebsräte haben bereite eine Kommission, die sich speziell um die berufliche Fortbildung kümmert. Tut sie das allein?

Nein. Außerdem gibt es neben den betrieblichen Kommissionen in der nächsthöheren Ebene, nämlich den Tarifvertragsparteien, eine solche Kommission. Natürlich können auch die keine Patentrezepte, etwas in welche Richtung die Arbeitnehmer konkret qualifiziert werden sollten, geben. Aber ganz augenscheinlich ist es doch so, dass es im kaufmännischen Bereich große Defizite gibt. Da kann die jeweilige Geschäftsführung allgemeine Dinge anbieten wie EDV, Wirtschaftsenglisch - das sind Sachen, die keine Kenntnis über eine mögliche künftige Produktionspalette voraussetzen. Oder nehmen wir den gewerblich-technischen Bereich, CNC-Steuerungen, CAD-Systeme - auch da besteht ein großer Nachholebedarf, den man unabhängig von ökonomischen Entwicklungstendenzen des Betriebes bereits jetzt abbauen kann.

• Welche Vorstellungen habt ihr, um genannte Probleme in den Griff zu bekommen?

Wir denken uns, dass in erster Linie die Aus- und Weiterbildungskapazitäten der ehemaligen oder noch bestehenden Betriebe erhalten werden sollten. In zweiter Linie ist der Erhalt dieser Einrichtungen auch äußerst wichtig für die Region. Gut ist es, und das meine ich keinesfalls überheblich, wenn man sich einen Kooperationspartner aus dem Westen sucht. Es ist nun einmal so, dass diese - da sie ja über 40 Jahre mit der Marktwirtschaft umgehen gelernt haben – über mehr Erfahrungen in Sachen Bildungs-know-how verfügen.

• Kannst du ein Beispiel für eine solche Kooperationsgemeinschaft nennen?

Ja. Die Transformatoren- und Schaltgeräte GmbH hat einen solchen Vertrag mit dem Berufsfortbildungswerk Düsseldorf des DGB abgeschlossen. Erstes Anliegen dieser Kooperation ist es, Maßnahmen zur Berufsbildung auszuarbeiten und diese dann in einer Weiterbildungseinrichtung des Betriebes zu realisieren. Der Vorteil für den Betrieb liegt darin, dass nichts verscherbelt wird, sondern Grund und Boden sowie Gebäude als Kapital für ihn erhalten bleiben. Ein zweiter ist, dass der Betrieb an Qualifikationsmaßnahmen nur das bezahlen muss, was er echt braucht. Diese Konzeption kommt zudem seinen wirtschaftlichen Bedürfnissen entgegen, weil ja diese Maßnahmen vom Arbeitsamt finanziert werden. Ich glaube, das ist ein gangbarer Weg für alle.

• Wir sprachen jetzt immer nur von Qualifizierungsmöglichkeiten für Kurzarbeiter und Arbeitslose. Haben aber nicht auch die, die Arbeit haben, Anspruch aufs Welterlernen?

Selbstverständlich. Das ist ebenfalls eine Forderung der IG Metall. Und qualifizieren sollte sich nicht nur der Obermeister, sondern ebenfalls der Kollege, der an der Maschine steht. Im Westteil der Stadt wurde kürzlich ein Bildungsurlaubsgesetz verabschiedet. Wenn es auch nur halbherzig ist, so wird doch immerhin jedem Arbeitnehmer eine Woche pro Jahr eine durch das Unternehmen finanzierte Weiterbildung zugebilligt. Allerdings ist bis jetzt noch nicht geklärt, ob diese Regelung auch für den Ostteil der Stadt zutrifft. Dafür werden wir uns aber einsetzen.

Marion Zyrus

Tribüne, Mo. 24.12.1990

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