Ein großes Defizit in der Armee

Gespräch mit Major Martin Reißmann, Vorsitzender der Gewerkschaft der Armeeangehörigen

• Trotz anderslautender Gerüchte, die im Umlauf waren, fand eure Gründungsveranstaltung statt.

Ja, wir haben u.a bereits am 10. März als Gewerkschaft der Armeeangehörigen (GdAA) gegründet. Auf der Delegiertenkonferenz in Schneeberg wurde die vorläufige Satzung beschlossen, ein Aktionsprogramm angenommen und ein Hauptvorstand gewählt. Die Gerüchte vor der Wahlveranstaltung sind sicher darauf zurückzuführen, dass eine Gewerkschaft in den Streitkräften nicht überall auf Gegenliebe stößt.

• Steht ihr denn in der Welt nicht auch auf verlorenem Posten?

Armeeangehörige, die sich gewerkschaftlich organisieren, sind nicht üblich. Aber in Dänemark und den Niederlanden existieren in den Streitkräften ebenfalls Gewerkschaften. Selbst in der Bundeswehr gibt es Angehörige, die, angegliedert an die ÖTV, gewerkschaftlich organisiert sind.

• Was spricht für euch?

Zunächst gibt uns das Gewerkschaftsgesetz die Möglichkeit, auch in der Armee tätig zu werden. Umstrukturierungen und Abrüstungsmaßnahmen müssen sozial abgesichert sein. Das erfordert eine starke, aktionsfähige Gewerkschaft.

• Könnte das nicht auch der Verband der Berufssoldaten?

Interessenvertretung in der Armee war in der Vergangenheit ein großes Defizit. Darum entstanden ja unterschiedliche Organisationen. Gewerkschaften sind für soziale Belange nach unserer Meinung geeigneter. Der Berufsverband übernimmt beispielsweise Aufgeben, die weit darüber hinausgehen. Er erfasst alle Berufskader, wie zusätzlich alle Wehrpflichtigen. Jedoch schließen Verband und Gewerkschaft einander nicht aus. Wir sprachen uns deshalb, in Schneeberg für eine Doppelmitgliedschaft aus.

• Wie steht ihr zu den Vorwürfen, eine Gewerkschaft werde die Armee zerstören. Befehl und gewerkschaftliche Kampfformen passen nicht unter einen Hut?

Viele Vorwürfe kamen aus Unkenntnis über unsere Grundsätze und Ziele. Streik - so steht es in der Satzung - beschränkt sich nur auf den Fall, dass die NVA verfassungswidrig eingesetzt werden soll. Wir stellen das Prinzip der Einzelleitung nicht in Frage. Im Verteidigungszustand stellt die GdAA die Interessenvertretung ein.

Uns geht es um die Schaffung eines Klimas in der Armee, das eine vernünftige Erfüllung des Verfassungsauftrages garantiert. Ein Vorgesetzter, der nicht gegen geltendes Recht verstößt, braucht uns nicht zu fürchten.

• Was steht ganz oben auf der Wunschliste?

Erstens die Befürwortung unseres Antrages, in den FDGB aufgenommen zu werden. Zweitens Anerkennung durch den zukünftigen Minister. Drittens eine breite Mitgliederbasis.

Michael Wiesner

Tribüne, Di. 20.03.1990

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