Erste Stellungsnahme des Bundesvorstandes des FDGB
Der Bundesvorstand des FDGB wendet sich, erfüllt von tiefer Sorge, an die neun Millionen Mitglieder seiner Gewerkschaften. Wir sehen unsere Arbeiter-und-Bauern-Macht und den Sozialismus in ernsthafter Gefahr. Was wir in gemeinsamer Arbeit geschaffen haben, darf nicht aufs Spiel gesetzt werden. Die Stärkung der DDR, das ist unsere ureigenste Sache. Unser Land braucht die bewusste Tat jedes Gewerkschafters. Wir wollen, dass das Leben in der DDR attraktiver wird und die Gewerkschaften in diesem Sozialismus ein echter Interessenvertreter aller Werktätigen sind. Der Bundesvorstand erklärt seine Entschlossenheit, alles zu tun für eine Wende in der Gewerkschaftsarbeit. Die Leitungen des FDGB haben Tausende Stellungnahmen von Vertrauensleuten, Gewerkschaftsgruppen, AGL und BGL sowie Vorständen erhalten. Darin wird der Vorwurf ausgesprochen, dass wir nicht rechtzeitig und konsequent gegen die angestauten Probleme, gegen Erscheinungen der Deformation und Ignoranz gekämpft haben. Wir stellen uns dieser Schuld - ohne Wenn und Aber. Wir werden nicht mehr dulden, dass die in der Verfassung garantierten Rechte der Gewerkschaften nicht wahrgenommen oder eingeschränkt werden.
Als einheitliche, unabhängige und freie Gewerkschaft wollen wir
- kämpferisch die Interessen der Arbeiterklasse und aller anderen Werktätigen in jeder Situation verfechten. Den Schutz der Arbeiterinteressen verstehen wir als unsere oberste Pflicht;
- das Gesicht unserer ganzen Organisation den Arbeitskollektiven zuwenden. Ihnen im vertrauensvollen Miteinander zu helfen, gut zu arbeiten, gutes Geld zu verdienen und gute Ware zu kaufen, ist unser gewerkschaftliches Anliegen;
- uns noch konsequenter dafür einsetzen, dass die Jugend bei allen Entscheidungen, die ihr Leben und ihre Arbeit betreffen, mitbestimmen kann. Wir sind dafür, dass unseren Werktätigen noch mehr konkrete Verantwortung übertragen wird;
- dafür sorgen, dass das Wort der Mitglieder Geltung erhält. Ihre Gedanken, Vorschläge und Kritiken sollen bei allen Entscheidungen zählen. Es geht um die ständige, umfassende Information der Werktätigen, um weniger Papier, mehr vertrauensvollen Einsatz für den einzelnen;
- die Rechte der betrieblichen Gewerkschaftsleitungen müssen erweitert werden. Es geht um größere Kompetenzen und Selbständigkeit der Industriegewerkschaften und Gewerkschaften vor allem auch in der Lohn- und Tarifpolitik. Die RKV sind zu überprüfen und notwendige Schlussfolgerungen zu ziehen;
- unter Beachtung der vielen Vorschläge unserer Mitglieder werden wir entschiedener zur Durchsetzung des Leistungsprinzips beitragen;
- den Arbeits-, Gesundheits- und Umweltschutz als Einheit durchsetzen. Bei den BGL können ehrenamtliche Umweltinspektoren gewählt werden;
Die Volkskammerfraktion des FDGB wird vom Bundesvorstand beauftragt, die Gesetzesinitiativen des FDGB mit Entschiedenheit durchsetzen zu helfen.
Wir treten mit allem Nachdruck dafür ein, dass das Niveau der Ferienheime gehoben wird, Heime verstärkt rekonstruiert und modernisiert sowie begonnene Neubauten in den Volkswirtschaftsplan eingeordnet und rasch fertiggestellt werden. Alle Ferieneinrichtungen sind voll zu nutzen. Die FDGB-Gästehäuser in Warnemünde und Schmöckwitz werden dem Feriendienst des FDGB zur Nutzung ab 1. 12. 1989 übergeben und vor allem Schichtarbeitern zur Verfügung gestellt.
Um Familien mit schulpflichtigen Kindern besser mit Ferienplätzen versorgen zu können, schlagen wir eine Überprüfung der Schulferienregelung vor.
Wir erwarten von der Regierung eine Darlegung der volkswirtschaftlichen Situation. Wir verlangen von ihr Auskunft, welche Voraussetzungen zu schaffen sind, damit der Volkswirtschaftsplan 1989 in allen Wirtschaftszweigen erfüllt, die Kontinuität der Produktion gesichert und die Material- und Ersatzteilversorgung gewährleistet werden. Überall dort, wo Änderungen zum Plan 1990 notwendig sind, ist er den Arbeitskollektiven vorzulegen, und die gewerkschaftliche Stellungnahme ist auf einer Vertrauensleutevollversammlung einzuholen.
Für den Plan 1990 ist die Einheit von Plan, Bilanz und Vertrag zu sichern. Auf dieser Grundlage organisieren die Gewerkschaften den Wettbewerb und schließen verbindliche Betriebskollektivverträge ab. Wir erwarten eine gründliche Prüfung der Export-/Importstruktur im Interesse einer höheren volkswirtschaftlichen Effektivität und einer besseren Versorgung der Bevölkerung.
Für den Gesetzgebungsplan der Volkskammer schlägt der FDGB vor
- ein Gesetz über die erhöhten Kompetenzen der Arbeiter- und Volkskontrolle;
- ein Gesetz zur sozialen Sicherheit sowie ein Rentengesetz.
Der Bundesvorstand des FDGB schlägt der Regierung vor, konkrete Maßnahmen für die Anwendung des Leistungsprinzips, weitere Ausgestaltung des Steuersystems und der Verbesserung der materiellen Arbeitsbedingungen auszuarbeiten. Dazu gehört auch, die gegenwärtige Praxis der Jahresendprämie zu überprüfen. Die Regierung hat zu garantieren, dass der Einfluss der Gewerkschaften auf die Preis- und Subventionspolitik gesichert wird.
Dem FDGB-Kongress ist eine neue Satzung und eine Überarbeitung des Arbeitsgesetzbuches vorzulegen.
Die Wahlordnung des FDGB ist gleichfalls zu überarbeiten.
In Auswertung der 9. Tagung des ZK der SED und der Erklärung des Vorsitzenden des Staatsrates der DDR, Egon Krenz, vor der 10. Tagung der Volkskammer bringt der Bundesvorstand diese Vorschläge in die Aussprache über die aktuellen Fragen der Zeit ein. Er fordert dazu auf, diese Vorstellungen in den Mitgliederversammlungen breit zu diskutieren und an deren Umsetzung tatkräftig mitzuwirken.
Wir wollen das Vertrauen aller Mitglieder wiedergewinnen. Wir dürfen keinen enttäuschen.
Die Gewerkschaftsarbeit muss auf allen Ebenen von einem neuen Inhalt bestimmt werden. In angestrengter Arbeit leisten wir an der Seite der SED und unter ihrer Führung unseren Beitrag für die Wende in unserer sozialistischen Gesellschaft und zur Sicherung des Friedens. Wir stehen fest zum proletarischen Internationalismus und wollen die freundschaftlichen Beziehungen zur Sowjetunion und den anderen sozialistischen Ländern vertiefen.
Wir unterbreiten diesen ersten Standpunkt allen Gewerkschaftsmitgliedern und bitten, ihre Vorschläge an den Bundesvorstand zu übergeben, die bis zum 16. 11. 1989 zugestellt werden können.
Tribüne, Organ des Bundesvorstandes des FDGB, Di. 31.10.1989, 45. Jahrgang, Ausgabe 214