Verschärfte Ausbeutung kann nicht gebilligt werden!

Ab 1. Dezember vertritt die Gewerkschaft NGG Mitgliederinteressen in ganz Deutschland / In diesem Falle Einheit ohne Scherben

Auch die beiden Gewerkschaften Nahrung-Genuss-Gaststätten haben den Weg für nur eine Gewerkschaft frei gemacht. Waren viele Hindernisse auszuräumen?

Heinz-Günter Niebrügge: Im Grunde war nur der Termin zu bestimmen für das Inkrafttreten eines Beschlusses, den die Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten auf dem Gebiet der ehemaligen DDR im Juni dieses Jahres bei ihrer Gründung in Bernau fasste. Denn sie gründete sich auch mit dem Ziel, sich so bald wie nötig mit der Gewerkschaft NGG der Bundesrepublik zu vereinen. Am 8. Oktober einigten sich beide Hauptvorstände auf einer gemeinsamen Sitzung in Hamburg auf den 1. Dezember 1990. Der Gewerkschaftsrat der "NGG/DDR" ging auf seiner Sitzung am 16. Oktober mit diesem Vorschlag mit.

Rainer Kuschewski: Dazu muss man wissen, wie es zur Gründung der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten im Juni dieses Jahres für das Gebiet er nun ehemaligen DDR kam. Die Gewerkschafter der Nahrungs- und Genussmittelgewerbe und des Hotel- und Gaststättenbereiches gehörten zwei verschiedenen großen Gewerkschaften an. Im Verlaufe der ersten Monate dieses Jahres spürten sie mehr denn je, dass diese Strukturen nicht genügten, um ihre Interessen angesichts der immer angespannteren Lage wirkungsvoll zu vertreten. Die Anträge auf eigenständige Gewerkschaften häuften sich. Im Juni dieses Jahres war dann auch schon klar, dass sich eine neu gründende Gewerkschaft nicht auf ein langes eigenständiges Leben einrichten konnte. Deshalb bauten wir unsere Strukturen in enger Zusammenarbeit mit der Gewerkschaft NGG der Bundesrepublik auf und erhielten dabei jede erdenkliche Hilfe. Die Gewerkschaft Handel, Nahrung und Genuss löste sich bei dieser Gelegenheit auf, die Gewerkschaft Land, Nahrungsgüter und Forst musste sich dem Willen eines Teiles ihrer bisherigen Mitglieder fügen.

Welche Rechtsnachfolge trat diese Gewerkschaft an?

Rainer Kuschewski: Unsere NGG der ehemaligen DDR ist nicht Rechtsnachfolger einer FDGB-Gewerkschaft. Unmittelbar nach der Gründung waren wir eine Gewerkschaft mit sehr wenigen Mitgliedern, zunächst auch ohne eigenes Geld, ohne irgendwelchen Besitz.

Heinz-Günter Niebrügge: Das machte und macht den Anfang schwer, hat aber einen großen Vorteil. Die ab 1. Dezember die Interessen der Mitglieder für ganz Deutschland vertretende Gewerkschaft NGG kann ohne Reibungsverluste in den fünf neuen Bundesländern tätig werden.

Wie wird die Gewerkschaft NGG von den ehemaligen Mitgliedern aufgelöster DDR-Gewerkschaften angenommen?

Rainer Kuschewski: Für ehemalige Mitglieder der Gewerkschaft Handel, Nahrung und Genuss gab es ja schon ab Juni keine Wahl mehr. Per 16. Oktober hatten wir 84 176 eingetragene Mitglieder. Allein an diesem einen Tag registrierten wir einen Zugang von 3 388 Mitgliedern. Den mit Abstand höchsten Zugang vermeldeten an diesem Tag die Bezirke Schwerin, Neubrandenburg und Rostock.

Seit dem 30. September gibt es nun auch die Gewerkschaft Land, Nahrungsgüter und Forst nicht mehr. Ihre bisherigen Mitglieder der Nahrungsgüterbranche müssen sich nun entscheiden. Sie können nur Mitglied der NGG werden.

Heinz-Günter Niebrügge: Das wäre sehr in ihrem Interesse. Die Hauptvorstände, ein Ordentlicher Gewerkschaftstag und ein Gewerkschaftsrat haben beschlossen. Was müssen nun die Mitglieder in den fünf neuen Bundesländern für dieses Zusammengehen tun?

Heinz-Günter Niebrügge: Innerhalb von vier Wochen nach diesem 1. Dezember haben sie Gelegenheit, sich zu äußern, ob sie Mitglieder der NGG bleiben wollen oder nicht. Jeder erhält von seiner Gewerkschaft einen entsprechenden Brief. Natürlich bieten wir jedem bisherigen und künftigen Mitglied Gelegenheit, sich mit der Satzung der nunmehr nur einen Gewerkschaft in Deutschland vertraut zu machen. Wir schicken allen Mitgliedern die Satzung per Post ins Haus.

Die Bürger der fünf neuen Bundesländer haben nun die Möglichkeit, ihren Familienetat anders auszugeben, mehr für Autos, technische Konsumgüter aus dem Westen, weniger für Nahrung, für Genuss und für Gaststätten im Inland. Wie wirkt das auf die Beschäftigungslage dieser Branchen?

Heinz-Günter Niebrügge: Wie die Beschäftigten dieser Branche es derzeit erleben. Wir sind sehr traurig darüber, dass Erzeugnisse aus dem Ernährungssektor der neuen fünf Länder, die qualitativ nicht wesentlich schlechter sind als die der Bundesrepublik, nur die Verpackung ist eine andere, dass die nicht in RGW-Länder abgesetzt werden können. Das ist ein Thema, das wir wirtschaftspolitisch forcieren wollen, das haben wir auch schon öffentlich sehr deutlich geltend gemacht.

Das zweite Thema in diesem Zusammenhang ist, dass wir den westdeutschen Unternehmen oder den Unternehmen aus Europa, die investieren oder sich in den neuen Bundesländern etablieren wollen, ans Herz legen müssen, nicht nur den Markt in den neuen Ländern zu sehen, sondern zum Erhalt von Arbeitsplätzen beizutragen. Von einer konstruktiven Arbeit der Treuhand hängt dafür immer noch sehr viel ab.

Welche weiteren Erfahrungen macht die NGG mit Verschiebungen auf dem sich einenden und nun geeinten Arbeitsmarkt?

Heinz-Günter Niebrügge: Eine der negativen sieht so aus. Es gibt sehr zu befürwortende Gründe für die Qualifizierung von Bürgern der neuen fünf Länder in Betrieben auf dem bisherigen Bundesgebiet. Wegen zu begrüßender Kooperation von Unternehmen, wegen Betriebsgründungen in den neuen Ländern. Zu dieser Qualifizierung gehört auch Einarbeitung. Für wie lange die nötig ist, das mag variieren. In vielen Fällen leisten diese zu Qualifizierenden jedoch bald das gleiche wie einheimische Kollegen, allerdings für einen Durchschnittslohn nach ehemaligem DDR-Maß. Dann wird nicht mehr qualifiziert, sondern nur noch gearbeitet. Das ist etwas, was nicht geht. Diese "Ausbeutung" kann nicht gebilligt werden. Sie wird von uns aufs schärfste verurteilt.

Rainer Kuschewski: Ich erinnere hierzu auch an eine Solidaritätserklärung der Teilnehmer des Hamburger Gewerkschaftstages, die sich gegen den Überstundenboom in der Nahrungs- und Genussbranche auf BRD-Gebiet richtet; gegen Überstunden bei der Produktion von Nahrungs- und Genussmitteln für die fünf östlichen Bundesländer.

Inwieweit finden Mitarbeiter der NGG (DDR) Beschäftigung in der NGG Deutschland?

Rainer Kuschewski: Man muss hier wieder eine Besonderheit im Vergleich zur Situation sehen, vor der andere Gewerkschaften stehen. Mit der Auflösung der Gewerkschaft Handel, Nahrung und Genuss im Juni hatten deren Funktionäre eine dreimonatige Kündigungsfrist, die die in der NGG Verbleibenden einbrachten in den Aufbau der neuen Gewerkschaft. Im Rahmen der Mitgliederentwicklung und der Herstellung notwendiger Strukturen in den Bezirken und auch in einigen Orten wichtiger Territorien haben wir ab 1. Oktober für 45 Gewerkschaftssekretäre und 29 Verwaltungsangestellte befristete Arbeitsverträge abgeschlossen, die von der NGG Deutschland ab 1. Dezember übernommen werden. Wie weiter, das hängt von der Bewährung der Mitarbeiter und deren Akzeptanz seitens der Mitglieder ab.

Heinz-Günter Niebrügge: Wir haben jetzt den Vertrag bis 31. März 1991. In den bis dahin verbleibenden Monaten stehen intensive Qualifizierungsprogramme in allen Verwaltungsstellen an, die sehr ernst genommen werden, von beiden Seiten. Wir bilden auch schon eine Reihe ehemals in den Betrieben ehrenamtlich tätige Betriebsräte aus.

Eine ganze Reihe von Leuten absolviert jetzt einen Fünf-Monate-Kursus. Danach werden sie von uns in ein Arbeitsverhältnis eingestellt für 18 Monate Ausbildungszeit. Jeder mit einem neuen Arbeitsverhältnis bei uns soll die gleiche Ausbildung erhalten, wie sie alle anderen auch hatten. Das nehmen wir sehr ernst. Wir haben es hier mit Menschen zu tun, die künftig das Vertrauen der Arbeitnehmer in den Betrieben zu ihrer Gewerkschaft rechtfertigen müssen. Qualifizierung allein reicht nicht. Die Mitglieder müssen ihren Sekretären das Vertrauen aussprechen.

Wie wird die Gewerkschaft für die Mitglieder in den Territorien zu erreichen sein?

Rainer Kuschewski: Die bislang geschaffenen Strukturen ändern bloß den Namen.

Heinz-Günter Niebrügge: Sie ändern nicht einmal den Namen. Die NGG ist da. Wir haben in den 15 Bezirken Verwaltungseinheiten aufgebaut, Büros mit allem, was technisch nötig ist, mit Pkw. Alles, worüber wir an Modernität an Technik verfügen, werden wir in den fünf neuen Ländern anwenden müssen. Jeder muss sich damit einarbeiten, das machen wir jetzt auch.

Ab heute werden wir allerdings nachschauen, ob diese Strukturen auch berechtigt sind, wie sich darüber hinaus die Landesbezirke zu bilden haben. Davon gibt es in der Bundesrepublik sieben. Nun müssen wir sehen, wie viel wir in den fünf neuen Ländern brauchen. Das machen wir sehr solidarisch. Das diktieren wir nicht, das schreiben wir nicht vor. Wir wollen allerdings auch nicht sagen: fünf Länder, fünf entsprechende Einrichtungen. Ganz einfach. Das muss sich ja auch rechnen lassen. Da sind betriebswirtschaftliche Fragen, die wir als Organisation ernst nehmen müssen. Es sind doch Gewerkschaftsbeiträge, die verplempert werden, wenn wir das unverantwortlich machen würden.

Wie viel Mitglieder hat die NGG zur Zeit?

Heinz-Günter Niebrügge: Zu den 272 000 auf dem bisherigen Bundesgebiet kommen mit dem heutigen Tag 85 000 aus den fünf neuen Ländern. Diese 85 000 Mitglieder beweisen, dass die Arbeitnehmer in unseren Branchen in den neuen Bundesländern ein hohes Maß an Identifikation mit der NGG entwickelt haben.

Rainer Kuschewski: Man muss diese Zahlen in ihrer Dynamik betrachten. Wir haben derzeit pro Woche drei- bis viertausend Mitglieder Zuwachs. Am 17. September, auf dem Gewerkschaftstag der NGG in Hamburg, an dem alle 21 Hauptvorstandsmitglieder aus Berlin teilnahmen, mit Rederecht, hatten wir 52 000 Mitglieder, heute sind es 85 000.

Wie könnte es damit weitergehen, der ehemalige Organisiertenstand wird damit nicht erreicht?

Rainer Kuschewski: Wir müssen die Zahl unter zwei Aspekten sehen. Wir werden im Moment sicher nicht eine große Mitgliederentwicklung haben. Aber schwerwiegende Strukturveränderungen stehen noch aus . . .

Heinz-Günter Niebrügge: Die volle Wahrheit kommt erst nach dem 2. Dezember . . .

Rainer Kuschewski: Wir gehen davon aus, dass wir in der Perspektive 100 000 Mitglieder im östlichen Teil Deutschlands halten werden. Zwischenzeitlich können es auch mehr werden. In dem Zusammenhang muss man darauf hinweisen, dass das Deutsche Institut für Wirtschaft 50 Prozent aller Arbeitsplätze auf dem Gebiet der Ernährungswirtschaft in den neuen fünf Ländern in Frage stellt. Das macht ja auch um unsere Mitglieder keinen Bogen.

Heinz-Günter Niebrügge: Für jetzt muss man zumindest sagen: Die Bereitschaft, Mitglied der Gewerkschaft zu werden, ist hier größer als auf dem Territorium der alten Bundesländer. Wir rechnen mit einem höheren Organisationsgrad hier.

Hat die NGG Deutschland demnächst einen außerordentlichen Gewerkschaftstag nötig?

Rainer Kuschewski: Wir sind doch unmittelbar in den leitenden Organen vertreten, wenn ab 1. Dezember Kollegen in den Hauptvorstand einziehen, in den Beirat einziehen; wenn mit Abschluss der Wahlen unserer Landesvorstände entsprechend der Satzung die Mitglieder des Hauptvorstandes gewählt werden. Deshalb sehen wir aus organisationspolitischen Gründen keine Notwendigkeit für einen außerordentlichen Gewerkschaftstag.

Heinz-Günter Niebrügge: Wenn das alles funktioniert mit der Billigung der Mitglieder, und mit ihnen diskutieren wir ja jeden Tag darüber, dann hat man keinen außerordentlichen Gewerkschaftstag mehr nötig. Es sei denn, wir wollten eine Fackelveranstaltung machen.

Die größten Erwartungen der 85 000 neuen Mitglieder verbinden sich ganz sicher mit der Tarifarbeit. Wie wird sie aussehen?

Rainer Kuschewski: Dieser wesentliche Bestandteil unserer bisherigen Arbeit wird mit einem weit erfahreneren und leistungsstärkeren Potential fortgesetzt. Uns musste es zunächst vor allem darum gehen, die negativen Auswirkungen auf das Nettogehalt der Kollegen einzudämmen. Dazu wurden 91 Tarifverträge abgeschlossen.

Heinz-Günter Niebrügge: Unsere Mitglieder werden bald spüren, dass der überwiegende Teil unserer Tarifabschlüsse auf landesbezirklicher Ebene erfolgt, weil auch die Arbeitgeber sich in den Ländern so organisiert haben. Im Vergleich zu anderen Gewerkschaften ist bei uns die Betriebsnähe bei der Tarifgestaltung am schärfsten ausgeprägt. Mehr als 40 Prozent unserer Verträge, im Jahr etwa 600 bis 700, werden abgeschlossen für Unternehmen oder Betriebe, nicht für Regionen, nicht für das ganze Bundesgebiet.

Ein Beispiel für diese Nähe?

Wir schließen für einen Schlachthof, wo 13 Arbeitnehmer beschäftigt sind, einen Grundtarifvertrag, einen Gehaltstarifvertrag, wenn's angebracht ist auch noch ein Rationalisierungsschutzabkommen ab. Bis in die kleinste Einheit versuchen wir, den mitgliederdienlichsten Effekt zu erzielen, die wirtschaftlichen Hintergründe eines Unternehmens genau zu beurteilen. Es soll sich nicht einer hinter einem anderen verstecken können.

Welche Ziele werden zunächst in der Tarifarbeit verfolgt?

Heinz-Günter Niebrügge: Im ersten Durchgang die Annäherung der Strukturen. Die zweite Zielsetzung wird sein, natürlich auf dem Hintergrund der unterschiedlichen Entwicklung von Produktivität und Lebenshaltungskosten, schrittweise eine Annäherung an das Niveau des bisherigen Bundesgebietes zu erreichen. Wichtig ist, dass wir angesichts der Produktivitätsunterschiede keine Unterschiede in den Grundstrukturen eines Tarifvertrages entwickeln. Denn die Konzerne und Unternehmen werden auf kurzem Wege eine Vergleichbarkeit anstreben. Die Arbeitszeit wird sich zunächst bei 40 Stunden einpegeln.

Das dritte ist, dass wir die allgemeinen Arbeitsbedingungen wir Urlaub, Urlaubsgeld, Kündigungsschutz und alles, was manteltarifvertraglicher Inhalt ist, eigentlich in einem kürzeren Zeitraum vergleichbar hinbekommen wollen.

Horst Wiese

Sehr kurz befristet war das Dasein der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten auf dem Territorium der ehemaligen DDR. Kürzer, als bei der Gründung im Juni dieses Jahres gedacht. Ab 1. Dezember wird es nur noch die Gewerkschaft NGG Deutschland geben. Von vornherein gewollt war jedoch die einheitliche Gewerkschaft. Dem frühen Zeitpunkt ihres Zustandekommens grämt niemand nach. Er ist zeitgemäß, und Scherben macht er auch nicht.

Am 16. Oktober fasste der Gewerkschaftsrat der NGG mit Sitz in Berlin den dazu nötigen Beschluss.

Aber den Weg zu einer NGG Deutschland und zu Aspekten aktueller Gewerkschaftsarbeit führte "Tribüne" ein Gespräch mit REINER KUSCHEWSKI, Vorsitzender der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten mit Sitz in Berlin und mit HEINZ-GÜNTER NIEBRÜGGE, 1. Vorsitzender der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten mit Sitz in Hamburg, die bei ihrem Verschmelzungsverbandstag der drei westlichen Zonengewerkschaften im Mai 1949 an die reichen Traditionen der ersten deutschen Branchengewerkschaft anknüpfte.

Tribüne, Mi. 24.10.1990

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