ND-Interview mit Lorenz Schwegler, Vorsitzender der Gewerkschaft Handel, Banken und Versicherungen HBV

In zwei Jahren, zu Verhältnissen "wie im Westen"

Die Gesellschaft zur Privatisierung des Handels (GPH), eine Tochter der Treuhand, will ihre Aufgabe in der Ex-DDR in einem Jahr lösen. Ist die Gewerkschaft Handel, Banken und Versicherungen in die Entscheidungen einbezogen? Wie sichert sie ihr Mitspracherecht?

Wir haben uns um Gespräche bemüht. Unsere Position geht dahin, dass eine Neustrukturierung des Handels offenkundig notwendig ist. Dabei muss allerdings sehr darauf geachtet werden, dass leistungsfähige und lebensfähige Einheiten entstehen. Das wilde Entflechten vor allem in der Phase der Regierung de Maizière wurde von uns scharf kritisiert. Mit dieser Entflechtung sollten Verhältnisse geschaffen werden, die weder den Verbrauchern, noch den neuen Selbständigen und erst recht nicht deren Beschäftigten genutzt hätten.

Wir sind eigentlich nicht zuständig für die Pleiten der Selbständigen, aber wir sind zuständig für deren Beschäftigte.

Der nächste Gedanke: Das Ganze muss schnell gehen. Der Handel braucht qualifizierte Leitung, denn jetzt steht nicht mehr nur Verteilen im Vordergrund. Die Arbeitnehmer müssen über ihre Betriebsräte bei dieser Erneuerung kräftig mitsprechen.

Meiner Meinung nach ist es sanierungsgefährdend, dass die Treuhand erst so lange weitermacht, bis das große Ganze gelöst ist, statt zunächst einmal bestimmte Leitungserneuerungen zu betreiben, auch in dieser vorläufigen Situation. Die GPH ist da offensichtlich handlungsfähiger. Bis Jetzt allerdings hat die Gewerkschaft kein Mitspracherecht. Es gibt die Anbahnung des Gesprächkontakts. Wir hätten sonst auch die Kraft zu erreichen, dass man mit uns spricht.

Haben Tante-Emma-Läden in der Zukunft eine Chance?

Ich denke nicht. Sie werden auch hier in den fünf neuen Bundesländern kaum eine Chance haben. Leistungsfähige Einheiten wird es nur innerhalb von Ketten geben, beziehungsweise größeren Unternehmensverbünden. Nur dadurch können auch Arbeitsplätze gesichert werden. Damit wir uns richtig verstehen: Die Alternative zum Tante-Emma-Laden ist nicht der Supermarkt, sondern die Ladenkette, unter deren Flügel jede Menge kleine Selbständige schlüpfen können, mit eigenem Vertrieb, eigenem Risiko, aber Einbettung in eine logistische Handelskette. Das ist unsere Erfahrung in der Herausbildung des organisierten Handels.

Die HBV versteht sich als Kampforganisation, wie viel Mitglieder hat sie inzwischen?

670 000. In allen Bundesländern. In der ehemaligen DDR sind es jetzt vielleicht schon 300 000. Sie sind nicht etwa so reingerutscht, sie haben es mit eigener Unterschrift besiegelt. Die Organisation lebt. Es ist eine Mitmach-Organisation, keine Zuseh-Organisation. Schon seit Monaten werden in den neuen Bundesländern Betriebsräte, örtliche und fachliche Gremien gewählt. Die Aktivität wird an vielen Stellen, in Demonstrationen, in Tarifverhandlungen sichtbar.

Statt neun haben wir nun 14 Landesbezirke. Darin ist keiner tätig, der nicht ein demokratische Wahlbestätigungsverfahren hinter sich gebracht hat. Wie eine gemeinsame Satzung aussehen soll, werden wir auf unserem Gewerkschaftstag 1992 auch gemeinsam entscheiden. Die HBV wird auch hier in der Arbeit zur Interessenvertretung.

Sie sind stark im tariflichen Kampf engagiert. Was hat die HBV bisher erreicht?

Eine kräftige Weiterentwicklung der Lohn- und Gehaltstarife, die gestartet sind bei etwa 35 Prozent des westlichen Niveaus und jetzt gelandet sind bei 55, 60, 65 und 70 Prozent, mit der Option auf weitere Entwicklung in der nächsten Zeit. Wir haben eine Verkürzung der Arbeitszeit auf 40 Stunden erreicht, über weitere Verkürzung wird verhandelt. Wir wollen bis 1992 zu vergleichbaren Arbeits- und Lebensbedingungen kommen.

Die Gehälter festhalten oder starr an die Produktivität binden, wie es manchen Arbeitgebern und Politikern vorschwebt, ist nichts als ein Vertreibungsprogramm für qualifizierte Arbeitskräfte in Richtung Westen und ein weiterer Beitrag zum wirtschaftlichen Ausbluten der ehemaligen DDR.

Wie viele Arbeitskräfte sind bereits abgewandert?

Das Problem betrifft vor allem Berlin und die grenznahen Räume. Da ist von einer fünfstelligen Zahl die Rede. Das hängt zusammen mit dem Einkommensgefälle. Es gibt aber auch die "kleine" Form der Leiharbeit oder Druck durch Schmutzkonditionen.

Wie wird sich die Zahl der Arbeitskräfte im Handel in den neuen Bundesländern entwickeln, da doch in Zukunft viele neue Mitarbeiter gebraucht werden?

In der Perspektive wird es eher mehr Beschäftigte geben als weniger. Doch dazu brauchen wir erst einmal mehr Handelseinrichtungen. Zum Beispiel will massa bis Jahresende hier 140 Läden schaffen. Schwerwiegende Probleme befürchte ich für die Beschäftigten des Groß- und Außenhandels, da gibt es noch kein Konzept. Wichtig wäre, dass sich die Ex-DDR nicht zum Absatzgebiet entwickelt, sondern ihre Industrie belebt, dann hat auch ein neuer Großhandel eine Zukunft.

Welche Möglichkeiten gibt es für ehemalige Außen- und Großhändler?

Eine sinnvolle Sache wäre die Umschulung für die Tätigkeit in Banken und Sparkassen. Diese Branche wird hier expandieren. Gegenwärtig sind in den alten Bundesländern 600 000 Bank- und Sparkassenangestellte tätig, in den neuen etwa 60 000. Also entsteht ein riesiger Bedarf an Nachwuchs.

Das Ladenschlussgesetz hat bei uns viele Diskussionen heraufbeschworen. Man konnte früher länger einkaufen.

Der freie Unternehmer ist sicher bereit, rund um die Uhr den freien Konsumenten zu versorgen. Doch die Sache wird kritisch, wenn man sich dabei Beschäftigter bedient. Ihre und auch die Interessen der kleinen Einzelhändler vertreten wir. Es darf für sie keine ruinösen Arbeitsbedingungen geben. Außerdem geht es um die Vereinbarkeit von Berufstätigkeit und Mutterschaft der Frauen. Anderes würde zur "kalten" Vernichtung von Frauenarbeitsplätzen führen. 64,5 Stunden Ladenöffnungszeit bei 40 Stunden Wochenarbeitszeit - reicht das nicht?

Die Gefahr besteht auch darin, dass bei längerer Öffnungszeit in den Metropolen sich der Handel, die Dienstleistungen in den Zentren der großen Städte abspielen, und die kleinen "Heringsbändiger" außerhalb reihenweise kaputtgehen. Deshalb der Kompromiss des Ladenschlussgesetzes.

Welches Verhältnis hat die HBV zu den Linken?

Ein entkrampftes Verhältnis. Wir sind eine Einheitsgewerkschaft, in der jeder unabhängig von seiner politischen Heimat und seiner parteipolitischen Zuordnung mitreden und mithandeln kann. Wer sich als Linker in den demokratischen Strukturen bewegt, gibt uns keinen Anlass zu Problemen. Wer gewählt ist, ist gewählt. Wir dulden keine Ausgrenzungen. Doch die Gewerkschaft darf auch nicht zum Wirtstier für parteipolitische Zielsetzungen werden.

Das Gespräch führte
ROSI BLASCHKE

Neues Deutschland, Mo. 26.11.1990

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