IG-Metall-Chef Franz Steinkühler zum Ermächtigungsgesetz der DSU:

"Ungeheurer Skandal"

Mit einem Brief hat sich der Vorsitzende der Industriegewerkschaft Metall in der BRD, Franz Steinkühler, an führende Politiker und Gewerkschaftsfunktionäre in der DDR und der BRD gewandt. Darin protestiert er energisch gegen den jüngsten DSU-Antrag in der Volkskammer, mit dessen Hilfe die Gewerkschaften in der DDR enteignet werden sollen.

Sein Schreiben hat folgenden Wortlaut:

"Sehr geehrte Damen und Herren,

der DSU-Entwurf des 'Gesetzes zur Enteignung der Grundvermögen von Parteien und Massenorganisationen – Parteien-Enteignungsgesetz -' zielt darauf ab, auch das für die Gewerkschaftsarbeit notwendige Vermögen zu zerschlagen.

Die IG Metall für die Bundesrepublik Deutschland protestiert mit aller Entschiedenheit gegen diesen dreisten Versuch der DSU, die Gewerkschaften in der DDR entschädigungslos zu enteignen.

Dieser Gesetzentwurf ist nachdem in der Bundesrepublik herrschenden Verständnis von Demokratie und Rechtsstaat ein ungeheurer Skandal der an die finstersten Zeiten der deutschen Geschichte erinnert. Das gilt auch für die Art des Handstreichs, mit dem dieser Gesetzentwurf in letzter Minute vor dem Beitritt der DDR zur Bundesrepublik durchgepeitscht werden soll. Nach den in der Bundesrepublik geltenden Maßstäben kann dieser Gesetzentwurf keinen Bestand haben.

Mit der verfälschenden Gleichstellung von einheitsstaatlichen Parteien und Gewerkschaften wird der Versuch gemacht, der im Aufbau befindlichen Gewerkschaftsbewegung in der DDR die existentiell notwendigen Arbeitsvoraussetzung zu vernichten.

Wer die Beseitigung von Gewerkschaftshäusern will, der muss sich vor den Millionen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern verantworten, aus deren Mitgliedsbeiträgen ihre Gewerkschaftshäuser überhaupt erst errichtet werden konnten.

Mit diesem Ermächtigungsgesetz soll der Aufbau demokratischer Gewerkschaftsarbeit in der DDR im Keim erstickt werden.

Wir fordern die verantwortlichen Politiker in der DDR und in der Bundesrepublik auf, den demokratiefeindlichen Versuch der DSU zurückzuweisen, der gegen den Aufbau und die Existenz freier, demokratischer Gewerkschaften gerichtet ist.

Wer diesem Versuch der DSU zum Erfolg verhilft, trägt die Verantwortung dafür, dass den von massenhafter Arbeitslosigkeit bedrohten Frauen und Männern in der DDR ein wirksamer gewerkschaftlicher Schutz versagt wird.

Wer den Beitritt zur Bundesrepublik Deutschland will, der darf sich nicht mit dem Makel beladen, das Koalitionsrecht der Arbeitnehmer in der DDR noch in letzter Minute zu zerschlagen.

Wer ein einiges Deutschland will, der muss alles tun, um eine starke und demokratische Gewerkschaftsbewegung zu erhalten und nicht ihre Existenz zu drohen.

Der Versuch der DSU, den Anfang einer demokratischen Gewerkschaftsarbeit in der DDR durch die Zerschlagung aller Vermögenswerte zunichte zu machen, ist ein Angriff auf die freie, demokratische und durch das Grundgesetz geschützte Gewerkschaftsarbeit.

Mit freundlichen Grüßen
Industriegewerkschaft Metall für Bundesrepublik Deutschland
Franz Steinkühler"

Gleichlaufende Schreiben erhielten die Präsidentin der Volkskammer der DDR, die Fraktionsvorsitzenden, der Ministerpräsident der DDR, die Parteivorsitzenden/DDR und der Bundeskanzler der BRD, die Präsidentin des Deutschen Bundestages, die Fraktionsvorsitzenden, die Parteivorsitzenden, die Ministerpräsidenten der Länder der BRD sowie die Mitglieder des geschäftsführenden Bundesvorstandes des DGB, die Vorsitzenden der DGB-Mitgliedsgewerkschaften, der Vorsitzende des Sprecherrates des FDGB und der Vorsitzende der IG Metall für die DDR.

Neues Deutschland, Sozialistische Tageszeitung, Nr. 202, B-Ausgabe, 45. Jahrgang, Do. 30.08.1990

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