Appelle und Durchhalteparolen allein reichen nicht aus

IG Metall-Chef Franz Steinkühler fordert im MORGEN-Gespräch eine Gewinnabgabe zur Finanzierung der Einheit

MORGEN: Die SPD-regierten Ländern lehnen weitere Zahlungen zur Finanzierung der deutschen Einheit ab. Kann sich die IG Metall damit abfinden?

STEINKÜHLER: Die Steuereinnahmen der Länder sind durch die in der Bundesrepublik seit Jahren anhaltende Krise, die im Moment nur durch einen Boom überdeckt wird, gesunken. Wir haben immer noch fast zwei Millionen Arbeitslose, die Soziallasten sind gestiegen, und die Länder sind damit an der Grenze ihrer Finanzierungsmöglichkeiten. Deshalb vertreten sie zu Recht die Auffassung, dass die notwendige Finanzierung der Einheit nicht auf ihrem Rücken, sondern auf dem Rücken des Bundes geschieht. Das ist eine gesellschaftliche Aufgabe, und dafür hat der Bund die notwendigen Mittel aufzubringen. Die Ablehnung bedeutet ja nicht, dass die Länder der Meinung sind, in die neuen Länder soll kein Geld mehr fließen. Sie wenden sich gegen die von der Bundesregierung betriebene ungleiche Lastenverteilung. Die neuen Länder haben ein Recht darauf zu erfahren, was finanziert werden soll. Das haben die SPD-regierten Länder deutlich gemacht. Im Gegensatz zu den CDU-Ländern, die immer nur sagen: Das kann man aus der Portokasse bezahlen. Das wird nicht funktionieren.

MORGEN: Wie soll es denn funktionieren?

STEINKÜHLER: In den ostdeutschen Ländern muss die Infrastruktur aufgebaut werden. Voraussetzung dafür ist, dass die Wirtschaft möglichst schnell in Gang kommt. Arbeit muss finanziert werden. In Ostdeutschland droht die Arbeitslosigkeit überproportional zuzunehmen. Aber Bedarf an Arbeit ist genügend vorhanden, nur keine öffentliche Nachfrage. Und diese öffentliche Nachfrage muss der Staat schaffen.

MORGEN: Dafür wird Geld gebraucht . . .

STEINKÜHLER: . . . die Frage ist nicht, dass etwas finanziert werden muss, sondern wie die Finanzierung verteilt werden muss. An den Kosten sollen zunächst die beteiligt werden, die von der deutschen Einheit auch in besonderer Weise profitieren. Das ist zum Beispiel der Handel, das ist die Industrie. Und deshalb haben wir den Gedanken wieder ins Spiel gebracht, eine Investitionsabgabe von 3,5 Prozent der Gewinne zu fordern.

Wenn 3,5 Prozent nicht ausreichen, was wahrscheinlich ist, und wenn die angekündigte Umverteilung im Bundeshaushalt nicht ausreicht, was auch wahrscheinlich ist, dann sind wir für eine Ergänzungsabgabe der Großverdiener.

MORGEN: Wie hoch soll dafür die Bemessungsgrenze liegen? STEINKÜHLER: Man kann darüber diskutieren - beispielsweise, ob 60 000 Mark Jahreseinkommen bei Ledigen oder 120 000 Mark Jahreseinkommen bei Verheirateten die Höhe sein soll, ab der Abgaben zu zahlen sind. Wir würden das für vertretbar halten. Und wenn das nicht reicht, dann kann man mit uns sogar über Steuererhöhungen reden.

MORGEN: Auch über die Mehrwertsteuer?

STEINKÜHLER: Eine Mehrwertsteuererhöhung halten wir für ungerechtfertigt.

MORGEN: Sie würde aber auf alle Schultern verteilt und entspräche damit auch der von Ihnen geforderten Solidarität mit den Arbeitnehmern im Osten.

STEINKÜHLER: Unter Solidarität verstehen wir die gesellschaftliche Solidarität aller Bürger. Das heißt, dass die, die mehr verdienen, auch mehr geben müssen. Die Mehrwertsteuer wird diesem Prinzip nicht gerecht. Sie wird auf jeglichen Konsum aufgeschlagen. Aber während die Arbeitnehmer notgedrungen ihr gesamtes Einkommen auch wieder konsumieren und damit von ihrem gesamten Einkommen Mehrwertsteuer zahlen, legen die Großverdiener viel Geld beiseite und zahlen dafür keine Mehrwertsteuer.

MORGEN: Was können die DGB-Vertreter im Verwaltungsrat der Treuhandgesellschaft im Interesse der Arbeitnehmer bewirken?

STEINKÜHLER: Ich sehe die Gefahr, dass die DGB-Vertreter, die gnädigst in den Verwaltungsrat einrücken dürfen, dort als Feigenblatt missbraucht werden. Ich kann im Augenblick nicht sagen, welchen Einfluss die Gewerkschafter dort haben werden. Aber ich denke, dass er äußerst gering sein wird.

MORGEN: Ist es aus Gewerkschaftssicht vertretbar, Arbeitnehmer durch Kündigungsschutzvereinbarungen im Betrieb zu halten, Null-Arbeit zu finanzieren, obwohl ein großer Teil der Firmen nach marktwirtschaftlichen Grundsätzen nicht überlebensfähig ist?

STEINKÜHLER: Der Kündigungsschutz ist möglicherweise verdeckte Finanzierung von bedingt vorhandener Arbeitslosigkeit. Der Crash, der bereits durch die schlagartige Einführung der Währungsunion entstanden ist, darf nicht in seiner Wirkung durch Massenarbeitslosigkeit verdoppelt werden. Während der Kurzarbeit sollen die Menschen umgeschult werden, und dafür soll es materielle Anreize geben. Das hat den Vorteil, dass der Betrieb jederzeit wieder die Produktion hochfahren und auf die Leute zurückgreifen kann, die dann noch dazugehören. Denn wenn Facharbeiter aus einem Betrieb einmal weg sind, sind sie weg. Mit hochqualifizierten Menschen ist es wie mit hoch trainierten Sportlern - wenn sie nie antreten, versanden die Qualifikationen sehr schnell.

MORGEN: Aber noch immer suchen tausende Ostdeutsche Arbeit im Westen.

STEINKÜHLER: Die Übersiedlerwelle hat sich strukturell stark verändert. Während die Motivation früher überwiegend politischer Natur war, gehen jetzt leider zunehmend hochqualifizierte mobile junge Leute, die nicht noch zehn Jahre warten wollen, bis sie die Früchte des Sturzes der Mauer ernten können. Das muss zu Schlussfolgerungen für die Tarifpolitik in den neuen Ländern und auch für das Verhalten der Regierung und der Arbeitgeber führen. Sie werden, wenn sie kein politisches Desaster erleben wollen, die ostdeutsche Bevölkerung nicht zehn Jahre hinhalten können mit dem Argument, sich gefälligst zu bescheiden und die Ärmel hochzukrempeln.

MORGEN: Im Moment investiert der größte Teil westdeutscher Unternehmen wenig, diskutiert stattdessen über ungeklärte Fragen, wie beispielsweise über die Eigentumsverhältnisse an Grund und Boden oder über Altlasten.

STEINKÜHLER: Teilweise scheint das eine Diskussion unter Vorwänden zu sein, um von tatsächlichen Überlegungen abzulenken. Die ehemalige DDR ist ein Gebiet mit 16 Millionen Verbrauchern, so groß wie Nordrhein-Westfalen-Solange dieser relativ kleine Markt durch Sonderschichten von hier bedient werden kann, überlegt der Unternehmer sich zweimal, ob er sich neue Fixkosten durch Errichtung einer neuen Produktion an den Hals hängen soll. Alle Unternehmen, die anfangen zu investieren, tun dieses nur, wenn sie von den Altlasten an Grund und Boden befreit werden und enorme Subventionen bekommen. Das mag bedauerlich sein. Nur, mit moralischen Kategorien kommt man im Kapitalismus nicht weiter.

MORGEN: Der Subventionsgedanke ist doch gar nicht so abwegig. Er bietet einen Anreiz für Investitionen.

STEINKÜHLER: Genau wie Kapitalinvestitionen subventioniert werden, wird man vielleicht darüber nachdenken müssen, ob nicht auch für einen gewissen Zeitraum Arbeitseinkommen subventionieren werden müssen. Die Arbeitnehmer müssen endlich dort bleiben, wo sie für den Aufbau der Wirtschaft gebraucht werden.

MORGEN: Der Bundesfinanzminister plant eine Umschichtung der Beiträge zur Arbeitslosen- und Rentenversicherung. Können Sie damit leben?

STEINKÜHLER: Wir lehnen das ab. Um die steigende Arbeitslosigkeit in der ehemaligen DDR zu finanzieren, sollen die Kosten einfach auf die Schultern der Beitragszahler umgelegt werden. Wir meinen, dass die Kosten nicht nur die tragen sollen, die Beiträge zur Arbeitslosenversicherung bezahlen. Beamte zahlen keine Beiträge zur Arbeitslosenversicherung. Das halten wir für falsch: Die Kosten müssen von allen getragen werden, darüber darf überhaupt nicht diskutiert werden.

MORGEN: Auch in der gesamtdeutschen Gewerkschaft IG Metall gibt es zwei Gruppen. Die Metaller im Osten verdienen nicht einmal die Hälfte des Einkommens eines Westmetallers.

STEINKÜHLER: Wir machen Tarifpolitik schon immer regional. Wir haben auch im ehemaligen Bundesgebiet viele Tarifverträge mit unterschiedlichen Löhnen und unterschiedliche Arbeitsbedingungen. Nun sind die neuen Länder hinzugekommen. Da gibt es eine Riesenspanne. Diese Spanne wollen wir möglichst schnell verkleinern. Aber das bedeutet nicht, dass wir hier so lange stehenbleiben wollen. Die Arbeitnehmer in der ehemaligen Bundesrepublik haben nach wie vor das Recht, an dem von ihnen produzierten Mehrwert in Form von Lohn-und Gehaltserhöhung beteiligt zu werden. Natürlich muss es das Bestreben der einheitlichen Gewerkschaft sein, das Lohngefälle zwischen Alt-DDR und Alt-Bundesrepublik möglichst schnell zu beseitigen. Im ersten Schritt sollen in den neuen Bundesländern 60 bis 65 Prozent des westdeutschen Lohnniveaus erreicht werden. Und das orientiert sich wieder an dem Niveau, das im Westen durch Lohnerhöhungen nach oben geht.

Interview: Torsten Scheer

Der Morgen, Mo. 03.12.1990

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