KOMMENTAR
Aller Anfang ist schwer
Nichts ist mehrt wie es war. Die DDR, die uns vertraute und verhasste, gibt es nicht mehr.
Wer sich der neuen Realität, der anderen Seite der Medaille, nicht umstandslos anpassen kann oder will, hat nostalgische Träume. Merkwürdige Konstellationen ergeben sich im Wartezimmer der Traumdeuter: Die ihres Weltbildes beraubter Linken aller Länder vereinigen sich dort. Dort sitzen die alten Herren mit ihren engstirnigen Bütteln ebenso wie jene, die von ihnen verfolgt wurden, weil sie ihre Sprüche ernst nahmen. Und natürlich sind auch jene da, deren Träume schon immer in der DDR spielten, weil sie zu Hause nicht zu verwirklichen waren: die den Kapitalismus verdammten, weil sie ihn erlebten und erlitten, die von der DDR, so wie sie war oder werden sollte, die praktische Alternative erhofft hatten. Einen Verlust haben alle zu beklagen - die einen den der Macht bis zum Herbst, die anderen den der Utopie seitdem. Der Zusammenbruch des sozialistischen Kartenhauses trifft beide gleichermaßen, und es stellt sich heraus, was ihre Gemeinsamkeit ist: die Ablehnung des Kapitalismus.
Sozialismus als Herrschaft ist ebenso verloren wie Sozialismus als Opposition dazu. Was also ist Sozialismus? Als Linke verstehen sich die Stalinisten ebenso wie ihre Opfer, die reaktionären Despoten ebenso wie ihre progressiven Widersacher. Was also ist links?
Erkenntnisse sind nötig und vor allem die Wahrnehmung der Realität. Die Marxsche Utopie hat spätestens mit Lenin ihre Unschuld verloren, und der beharrliche Versuch, dies zu leugnen, ist naiv. Wie gefährlich ist es, die Geschichte vergewaltigen zu wollen, und sei es in bester Absicht, das haben wir erlebt. Zweihundert Jahre europäischer Geschichte und siebzig Jahre Sowjetunion hinterlassen einen Phantomschmerz, dessen Bewältigung die geistige Befreiung von den Maßstäben der Industrialisierung und der Wachstumsgesellschaft erfordert. Das massenhafte und darum unüberwindliche Bedürfnis nach der Wohlstandsgesellschaft ist nur konsequent nach dem gescheiterten Versuch, sie unter dem Namen Sozialismus zu verwirklichen.
Im Umgang mit der Geschichte und der Gegenwart ist Trauerarbeit angebracht, nicht Selbstmitleid - auch in Aggression verwandeltes hilft da nicht weiter. Um nicht zum Fossil zu werden, muss umdenken, wer sich mit der Realität nicht abfinden will. Den Utopieverlust nur als Aufforderung zum Erfinden einer neuen zu begreifen, wäre allerdings auch keine Lösung - höchstens eine typisch deutsche.
Mindestens ebenso wichtig ist es, sich auf die Realität einzulassen. Ohne eine gehörige Portion Pragmatismus wird das nicht gehen. Die gewohnten Begriffe sind missverständlich, die gewohnten Spielregeln gelten nicht mehr. Dass der Zweck nicht die Mittel heiligt, sollte die ehemalige Linke gelernt haben. Nicht zufällig ist dies das Motto derer, die herrschen oder herrschen wollen. Aber die herrschaftsfreie Gesellschaft ist noch weit, und bis dahin ist praktische Politik gefordert. Weniger an Utopien orientierte Ideologien sind dafür nötig als an Interessen und ihrer Durchsetzung ausgerichtete, konkrete Vorschläge. Die Formulierung emanzipatorischer Ansprüche kann nicht mit dem Gedanken spielen, das Volk zu seinem Glück zwingen zu wollen. Es muss kein Verrat an Rosa Luxemburg sein, sich Bernsteins Devise zu bedienen: "Das Ziel ist nichts, die Bewegung ist alles."
die andere, Nr. 28, 01.08.1990