"Aufarbeitung - ohne den Impuls der Rache"
Wolfgang Templin von der "Initiative Frieden und Menschenrechte" zur Stasi-Überprüfung der Abgeordneten
taz: In der DDR zeichnet sich quer zu den politischen Konflikten eine Parteienkoalition ab, die die Überprüfung der Abgeordneten auf ihre mögliche Stasi-Vergangenheit verhindern will. Das Bündnis 90 gehört zu den Verfechtern. Warum?
Wolfgang Templin: Wir denken, es gehört zur demokratischen Mindestkultur in einem ansonsten noch völlig undemokratischen Land, dass zumindest die Abgeordneten des ersten demokratischen Parlamentes die Gewähr dafür bieten, nicht zuhauf Mitarbeiter des Staatssicherheitsdienstes gewesen zu sein. Ich denke, dass es dabei gar nicht so sehr um die kleinen Fische geht, auf die man ja immer penetranter zeigt, sondern um ganz andere Größenordnungen.
Die Parteien begründen ihre Ablehnung mit der notwendigen schnellen Regierungsbildung im Interesse einer Konsolidierung des Landes. Das "Herumstochern in der Vergangenheit" erscheint ihnen als Moment der Destabilisierung.
Wir sind nicht für ein Herumstochern in der Vergangenheit, sondern für ein möglichst klares Verfahren, das nicht dazu dienen soll, ungeprüft Verdächtigungen an die Öffentlichkeit zu bringen. Wir sind dafür, belastete Personen mit dem vorliegenden Material zu konfrontieren. Wir stellen uns dabei nicht einen Prozess vor, der gegen Unendlich geht. Wir befürworten aber einen Einschnitt, der die Legitimität des Parlamentes herstellt, die nach 40 Jahren SED-Regime eben nicht einfach durch Wahlen erreicht werden kann.
Die Bevölkerung, die vor zwei Monaten noch wegen der verschleppten Stasi-Auflösung auf die Straße gegangen ist, scheint mittlerweile eher desinteressiert an der Aufarbeitung der Vergangenheit.
Ich bin da nicht so sicher, aber es wird sich genau an der Frage der Überprüfung zeigen, wie stark das Interesse an einer Auseinandersetzung mit der jüngsten Geschichte tatsächlich ist. Selbst wenn sich jetzt herausstellt, dass andere, scheinbar dringlichere Probleme herangezogen werden, um kollektiv vor der Vergangenheit wegzulaufen, dann wäre das eben keine Position, die wir uns zu eigen machen können. Nichts ist gefährlicher für die weitere Demokratisierung, als jetzt mit der Parole: "Nach vorne durchstarten" die Vergangenheit wie eine alte Jacke wegzuwerfen.
Verbindet sich nicht das Interesse am "Schlussstrich" momentan auch mit dem weitverbreiteten Gefühl: "Da blickt eh keiner mehr durch"?
Interesse am Schlussstrich würde für mich bedeuten: Abschied von der Vergangenheit im Sinne von Verarbeitung. Aber das kann sich nicht in blinder und bewusstloser Drehung vollziehen. Das wäre ein bewusster Abschied, der durchaus einhergehen kann mit dem Interesse, nicht jeden kleinen Stasi-Zuträger auf ewig mit seiner Biographie zu konfrontieren.
Seht ihr in eurer Insistenz auf Aufarbeitung nicht auch die Gefahr, dass über einen längeren Zeitraum und weitgehend unkontrolliert Verdächtigungen an die Öffentlichkeit gebracht werden?
Das sehen wir durchaus. Vielleicht würden wir auch gar nicht so sehr auf diesem Punkt insistieren, wenn nicht in allen Bereichen die Abneigung so penetrant wäre, sich mit der Verantwortung auseinander zusetzen. Vor diesem Hintergrund wird die Abgeordnetenüberprüfung wirklich zu einem Schlüsselkonflikt. Auf anderen Ebenen, wo es gar nicht um die Frage einer Stasi-Mitarbeit geht - etwa bei der Frage nach Entscheidungsstrukturen und Verantwortlichkeiten für eine falsche Politik -, da sehe ich genau die gleiche Haltung: Man will es nicht sehen, man will es nicht gewesen sein, alle waren Opfer.
Dabei verbindet sich das individuell verständliche Motiv der Existenzsicherung um jeden Preis mit Tendenzen der "neuen" politischen Kräfte. Von der CDU ist sicher nicht zu erwarten, dass sie jetzt mit militanter Schärfe in den Apparat eingreift, sondern umgekehrt. Aufgrund ihrer Blockvergangenheit ist sie doch aufs engste mit dem SED-Staatsapparat verfilzt.
Wie lässt sich denn die Aufarbeitung des Stasi-Nachlasses organisieren?
Ich würde dafür plädieren, dass - selbst auf die Gefahr des Missbrauchs von Akten - dieser Fundus erhalten bleiben muss. Nicht aus schierem historischem Interesse, sondern aus der unabweisbaren Verantwortung für die Vergangenheit. Wenn wir das vernichten, dann vernichten wir die Chance geschichtlicher und kultureller Aufarbeitung einer ganzen Epoche. Wenn die Sicherung der Akten im nationalen Rahmen nicht machbar ist, dann muss man internationale Lösungen finden. Aber ich sehe natürlich die Gegenargumente, die Gefahr des unbefugten Zugriffs durch Geheimdienste, der Erpressbarkeit und moralischen Verwüstung einer ganzen Gesellschaft.
Wie stellt ihr euch eine historische Aufarbeitung der jüngsten Geschichte vor - über die Frage des Stasi-Nachlasses hinaus?
Das wichtigste ist, dass das nicht in den Händen von Gremien liegen kann, die jetzt meinen, qua institutionalisierter Verantwortung Geschichte zu bearbeiten. Das anstehende Rehabilitierungsgesetz vom Ministerium für Justiz vorbereiten zu lassen, zeigt, was da auf uns zukommt. Das ist ein einziger Skandal; die Beamtenvariante der Geschichtsbewältigung. Wir denken da eher an den "Bund unabhängiger Historiker", die schon jetzt versuchen, die Arbeit zahlreicher historischer Initiativen und Projekte etwa das linke Dokumentationszentrum oder den Verband der Opfer des Stalinismus - zusammenzufassen. Es geht darum, integre Fachkompetenz, aber auch die Kompetenz unmittelbar Betroffener zusammenzubringen. Andere Ebenen wie das Parlament können hinzukommen. Die dürfen jetzt nicht einfach verschwinden.
Das Bündnis ist von Anfang an auch mit dem Anspruch der Versöhnung angetreten. Geratet Ihr jetzt nicht in Konflikt zu diesem Anspruch?
Ich sehe es eher umgekehrt. Die Leute, die heute für Aufarbeitung stehen, sind genau die, die keine miese Rache fordern. Die Leute, die jetzt Honecker von Heim zu Heim zerren, sind nicht die Opfer. Das sind die Kleinbürger, die sich immer geduckt haben und diesem aufgestauten Hass jetzt Luft machen. Die Chance zur Versöhnung ist an die Aufarbeitung gebunden, Aufarbeitung ohne den Impuls der Rache.
Das Gespräch führte Matthias Geis
aus: TAZ Nr. 3068, vom 27.03.1990