"Wir haben kein Urteil zu fällen"

Überprüfung de Maizières vom Bundeskanzleramt veranlasst / Interview mit dem Sonderbeauftragten Joachim Gauck

MORGEN: Herr Gauck, ist der Fall de Maizière nach Ihrer Einschätzung nur ein weiteres Glied in einer nicht abreißenden Kette? Könnte nicht jede halbwegs repräsentative Persönlichkeit der ehemaligen DDR wegen Kontakten zur Staatssicherheit in die zwielichtige Rolle eines Informanten geraten?

GAUCK: Nein, so ist das nicht. Es ist nicht davon auszugehen, dass jeder Mensch aus den neuen Bundesländern, der ein Amt anstrebt, mit einer hohen Wahrscheinlichkeit irgendwo in den Listen und Karteien des MfS auftaucht. Was die Überprüfung des Falles de Maizière angeht: Die Antragsteller haben ihren Antrag nicht zurückgezogen, so dass wir weiter daran arbeiten.

MORGEN: Der Antrag zur Überprüfung de Maizières kam offenbar aus dem Bundeskanzleramt?

GAUCK: Ja. Aber es waren im Grunde zwei Richtungen. Zum einen war Herr de Maizière selber Antragsteller, da seine Persönlichkeitsrechte in der Öffentlichkeit beeinträchtigt wurden. Zum anderen gehört natürlich auch ein Minister zum öffentlichen Dienst, und so hat der Kabinettschef die Möglichkeit, eine Überprüfung vornehmen zu lassen.

MORGEN: Der Antrag von de Maizière kann doch erst erfolgt sein, nachdem die Beschuldigungen öffentlich geworden sind. Sie waren aber doch schon vorher bei der Bundesregierung und haben gesagt, es läge etwas gegen de Maizière vor.

GAUCK: Nein. Ich war nicht bei der Bundesregierung. Ich habe nur im Rahmen meiner allgemeinen Loyalitätspflicht, die sich aus dem Beamtenrecht ergibt, Erkenntnisse, die mir zugänglich gemacht wurden, mitgeteilt. Ich habe aber nicht eigenständig angefangen, zu ermitteln.

MORGEN: Das war aber noch, bevor in Ihrer Behörde ein regulärer Antrag vorlag.

GAUCK: Das ist richtig.

MORGEN: Das Ganze hatte aber trotzdem nicht gerade den Charakter eines rechtsstaatlichen Verfahrens. Durch das Tätigwerden Ihrer Behörde ist nichts geklärt worden, sondern es stehen immer noch Dinge im Raum, mit denen niemand etwas anfangen kann.

GAUCK: Das ist Ihre Beurteilung. Aber ich denke, durch die Entscheidung, von Herrn de Maizière ist doch deutlich geworden, dass wir einer komplizierten Situation gegenüberstehen. Das, was jetzt die Entscheidung der Regierung oder von Herrn de Maizière beeinflusst hat, hängt natürlich auch mit den Ergebnissen unserer Arbeit zusammen, und nicht lediglich mit den Unterstellungen und Behauptungen, die in der Presse erhoben worden sind.

MORGEN: Wie eindeutig sind die Fakten, die gegen de Maizière sprechen?

GAUCK: Ich habe gesagt, dass ich in diesem und ähnlichen Fällen nicht selbständig Erklärungen vor der Presse abgeben kann. Hier denke ich, dass Ihnen die Antragsteller auf solche Fragen mit konkreten Antworten helfen.

MORGEN: Dem Gang der Dinge ist zu entnehmen, dass de Maizière so stark belastet ist, dass er zurücktreten musste . . .

GAUCK: Das kann man aus dem Gang der Dinge schließen.

MORGEN: Es obliegt also nur den Antragstellern, die Öffentlichkeit zu informieren?

GAUCK: Das ist ein Problem. Es ist auch für mich nicht immer einfach. Wir sind aber keine Ermittlungsbehörde, sondern eine Behörde, die aufgrund von Anträgen ermächtigter Einzelpersonen und Institutionen arbeitet.

MORGEN: Sie müssen doch im Stande sein, zu belasten oder zu entlasten.

GAUCK: Wir können nur dem Betroffenen all das zur Verfügung stellen, was er für seine Entscheidungsfindung braucht. Wir haben kein Urteil zu fällen. Der Sonderbeauftragte ist kein Richter, er bemisst nicht Schuld, sondern stellt Informationen zur Verfügung und hilft den Berechtigten, diese Informationen zu verstehen.

MORGEN: Wenn wir einen Fall theoretisch konstruieren: Eine Behörde wendet sich an Sie und sagt, wir möchten unseren Schatzmeister überprüfen lassen. Sie stellen fest, dieser Schatzmeister war bei der Staatssicherheit. Sie informieren die Behörde, diese aber lässt das Ganze unter den Tisch fallen. Was würden Sie dann tun?

GAUCK: Es ist nicht Aufgabe des Sonderbeauftragten die Personalpolitik einer Bundes-oder Landesbehörde zu bestimmen. Ich bin auch keine Art Oberkontrolleur für Behördenentscheidungen.

MORGEN: Wenn Ihnen aber durch Zufall bei einer auftragsgemäßen Recherche hochbrisantes Material in die Hände kommt, würden Sie es dann an die entsprechende Stelle weiterleiten?

GAUCK: Ich bin gezwungen, grundsätzlich nur auf berechtigte Anträge zu reagieren.

MORGEN: Kaum etwas ärgert die Bürger derzeit mehr als die immer noch aktiven MfS-Seilschaften in den Führungsetagen. Arbeiten Sie in solchen Fällen mit den Vertrauensbevollmächtigten der Treuhand zusammen?

GAUCK: Die Mitglieder jedes einzelnen Betriebes, den die Treuhand abwickelt, zu überprüfen, wird nicht möglich sein. Hier wird man die Belegschaft an ihre gewerkschaftlichen Möglichkeiten erinnern müssen und nicht so sehr den Glauben nähren, dass nun eine Behörde dafür sorgen wird, das diese Seilschaften abtreten.

MORGEN: Wir besitzen Informationen, dass Verfassungsschutzmitarbeiter in den Archiven des Sonderbeauftragten ein- und ausgehen . . .

GAUCK: Das stelle ich gänzlich in Abrede. Diese Vorstellung, dass in unseren Archiven der Verfassungsschutz ein- und ausgehen könnte, ist irrig. Wir hatten auch keine Anfrage des Verfassungsschutzes, das wäre auch gar nicht möglich gewesen, denn der Bundesinnenminister hatte den Verfassungsschutz angewiesen, bis zum Erlass einer Benutzerordnung keine Anfrage zu stellen.

MORGEN: Können Sie sich vorstellen, woher beispielsweise der Verfassungsschutz 103 000 Namen von hauptamtlichen MfS-Mitarbeitern hat?

GAUCK: Darüber zu spekulieren, ist müßig. Ich möchte nur sagen, dass ich mir das vorstellen kann. Es gibt genügend Möglichkeiten. Der Verfassungsschutz ist ja nicht gestern gegründet worden, sondern er ist eine lange funktionierende Behörde. Möglicherweise hat man sich hier Informationen ganz legal besorgt. Das müsste auch einmal überprüft werden. Weder ich noch meine Mitarbeiter haben dem Verfassungsschutz eine Namensliste der MfS-Mitarbeiter übergeben.

MORGEN: Was heißt denn ganz legal?

GAUCK: Es kann doch sein, dass die Kenntnis der Mitarbeit beim MfS allen möglichen Einrichtungen und Institutionen zur Verfügung steht.

MORGEN: Wo soll da die Quelle sein? Das MfS hat doch nicht irgendwelchen Institutionen erzählt, wer Mitarbeiter ist.

GAUCK: Es gab unter Modrow und de Maizière unterschiedliche mit der Auflösung des MfS beauftragte Organe. Da ist es schon möglich, dass auf dem Untersuchungsweg manche Kenntnisse irgendwie zugegangen sind. Also ich bin nicht sicher, dass sie die Namen tatsächlich haben. Ich bin nur sicher, dass meine Behörde weder mündlich noch schriftlich gegenüber dem Bundesamt oder gegenüber einem Landesamt Auskünfte gegeben hat.

MORGEN: Gibt es undichte Stellen?

GAUCK: Menschliches Versagen gibt es in jeder Behörde. Ich hatte bisher keinen Grund, an der Loyalität meiner Mitarbeiter zu zweifeln.

MORGEN: Wann ist mit einer vollständigen Enttarnung der „Offiziere im besonderen Einsatz" (OibE) zu rechnen.

GAUCK: Die meisten dieser Leute haben sich ja von ihren Plätzen entfernt, und im übrigen gilt auch für die OibE-Problematik: Der Sonderbeauftragte ist kein Stasi-Fahnder, wie es manchmal in der Presse heißt. Und aus diesem Grunde beschäftigt er sich zur Zeit nicht mit diesem Thema, sondern mit dem Aufbau seiner Behörde und mit der Abarbeitung der berechtigten Anträge. Das ist viel mehr, als er zur Zeit bewältigen kann.

Interview: Jan v. Flocken und
Michael Klonovsky

Der Morgen, Nr. 296 B, Donnerstag, 20. Dezember 1990

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