MINISTERIUM FÜR STAATSSICHERHEIT
Bezirksverwaltung Schwerin
Streng vertraulich! |
Schwerin, 3.10.1989 |
INFORMATION
über
den Verlauf einer Zusammenkunft von feindlich-negativen Kräften ("Neues Forum") am 2.10.1989 im Gemeindezentrum der ELLKM, Schwerin Bäckerstraße 2
Entgegen der in Gesprächen mit kirchlichen Amtsträgern (Präsident des Oberkirchenrates, Peter M(...), sowie den Pastoren S(...) und R(...)) nachdrücklich formulierten staatlichen Erwartungshaltung, nicht zuzulassen, kirchliche Räumlichkeiten von feindlich-negativen Kräften gegen staatliches Interesse und somit das Verhältnis Staat - Kirche belastende Aktivitäten missbrauchen zu lassen, kam es am 2. 10. 1989 in Bestätigung vorheriger interner Erkenntnisse im Gemeindezentrum der Paulakirchgemeinde Schwerin, Bäckerstraße, zu einer Zusammenkunft feindlich-negativer Kräfte mit dem Ziel, eine weitere öffentlichkeitswirksame Popularisierung der nichtgenehmigten Vereinigung "Neues Forum" in Schwerin voranzutreiben.
Gegen 19.30 Uhr setzte eine gezielte Personenbewegung in das Objekt Bäckerstraße 2 ein. Die Feststellungen ergeben, dass bis gegen 20.15 Uhr etwa 200 Personen das genannte Objekt betreten hatten, so dass zu diesem Zeitpunkt die Kapazität bereits überlastet war. Visuell wurde festgestellt, dass auf den Fensterbrettern Personen verharrten. Gegen 20.30 Uhr wurde die Zusammenkunft eröffnet (zum inhaltlichen Verlauf wird gesondert informiert). Zu diesem Zeitpunkt hielten sich schätzungsweise 100 Personen vor dem Gemeindezentrum auf und forderten Einlass. Gegen 20.50 Uhr wurden die sich auf der Straße befindlichen Anwesenden von einer weiblichen Person aufgefordert, in die Paulskirche zu gehen, um dort die Veranstaltung fortzusetzen.
Die Veranstaltung in der Bäckerstraße 2 war gegen 21.00 Uhr beendet. Es kam zu einer gezielten Personenbewegung zur Paulskirche, wobei die beteiligten Personen unterschiedliche Wege dorthin benutzten. Als eindeutig begründet kann eingeschätzt werden, dass von den Führungskräften dieses feindlich-negativen Zusammenschlusses Personen zur Absicherung der Zusammenkunft und zur Kontrolle des Standortes eingesetzt waren. Die überwiegende Anzahl der Teilnehmer suchte die Paulskirche auf. Dort dauerte die Zusammenkunft bis gegen 22.00 Uhr. Die Kontrolle der Straßenzüge in diesem Wohnbereich ergab keine Verbreitung von Hetzschriften. Es wird aber darauf verwiesen, dass unmittelbar vor Beginn der Veranstaltung in der Bäckerstraße ein dreiseitigen Positionspapier "Problemkatalog" verteilt wurde. Eines dieser Exemplare wird als Anlage beigefügt.
Nach bisherigen Erkenntnissen waren in der Paulskirche etwa 320 Personen anwesend. Beim Verlassen der Kirche und auf dem Weg zu Haltestellen der öffentlichen Verkehrsmittel traten keine Personen mit relevanten Handlungen in Erscheinung.
Als bedeutend gilt die Feststellung, dass Kräfte aus den Bezirken Frankfurt/Oder, Magdeburg, Dresden und Rostock sowie aus den Kreisen Ludwigslust, Hagenow und Güstrow an der Zusammenkunft teilgenommen haben. Die Personifizierung dazu ist anhand der polizeilichen Kennzeichen eingeleitet und gegenwärtig noch nicht abgeschlossen. Nach gegenwärtigen Erkenntnissen sind ca. 25 Pkw festgestellt worden, die mit hoher Wahrscheinlichkeit mit dieser Veranstaltung im Zusammenhang stehen.
Die Zusammenkunft wurde organisiert und bestimmend getragen von den bekannte Personen um K(...), B(...), L(...) und R(...). Zu Beginn wurde das Pamphlet "Aufbruch 89 - Neues Forum" verlesen sowie die staatliche Reaktion auf Versuche zur offiziellen Genehmigung des "Neuen Forums" dargelegt. Es wurde erläutert, dass sich das "Neue Forum" als eine politische Bürgerinitiative verstehe und sich damit in einer vorhandenen "juristischen Grauzone" bewege. Gegenstand der weiteren Diskussion in Gruppen waren die in dem bereits genannten "Problemkatalog" aufgeworfenen Fragen.
In der Paulskirche waren Listen ausgelegt, in die sich die anwesenden Personen als Mitglieder des "Neuen Forums" eintragen konnten. Nach bisher vorliegenden Informationen trug sich ein nur geringer Teil der Anwesenden in diese Listen ein.
Die anwesenden Personen wurden darauf orientiert, dass weitere derartige Veranstaltungen durchgeführt werden, insbesondere wurde auf den Stadtjugendabend am 6. 10. 1989 im Wichernsaal in Schwerin verwiesen.
MINISTERIUM FÜR STAATSSICHERHEIT
Bezirksverwaltung Schwerin
Streng vertraulich! |
Schwerin, 4.10.1989 |
Ergänzende
INFORMATION
über
den Verlauf einer Zusammenkunft von feindlich-negativen Kräften ("Neues Forum") am 2.10.1989 im Gemeindezentrum der ELLKM, Schwerin (Nr. 138/89)
Die Verlegung des Veranstaltungsortes vom Gemeindezentrum in die Paulskirche erfolgte von den Organisatoren aufgrund des von ihnen nicht eingeplanten enormen Personenzulaufes von 800-900 Personen. Bewusst wurde in Vorbereitung dieser Veranstaltung auf die Paulskirche und den Paulskirchenkeller orientiert, da sie in Schwerin das Zentrum der kirchlichen Jugendarbeit darstellen, großen Zulauf Jugendlicher haben und bei diesen eine Erwartungshaltung und Motive für die Einflussnahme auf gesellschaftliche Entwicklungsprobleme auslösen.
Der Teilnehmerkreis umfasste in der Mehrheit Jugendliche, Jungerwachsene und Personen im Alter bis etwa 35 Jahre mit gleicher Anzahl männlicher und weiblicher Personen, den Kern des "Neuen Forums", Suchende und politisch Unmotivierte.
Ein Teil der Anwesenden hat den politischen Inhalt der Veranstaltung nicht erkannt und diese vorzeitig wieder verlassen. Die Paulakirche hat ein maximales Fassungsvermögen von 900 Personen, davon ca. 500 Sitzplätze. Diese totale Überfüllung ermöglichte es den vorbereiteten und zum Einsatz gebrachten gesellschaftlichen Kräften objektiv nicht, politisch wirksam zu werden. Sie konnten nur im unmittelbaren Umfeld mit Kontaktpartnern offensiv auftreten.
Intern und durch gesellschaftliche Kräfte wurde arbeitet, dass durch das Nichtvorhandensein konzeptioneller Vorstellungen der Organisatoren der Programmablauf und der Inhalt der Veranstaltung sich auf die Verlesung des Pamphletes "Aufbruch 89 - Neues Forum" sowie auf die Darlegung staatlicher Reaktionen auf die Versuche der Legalisierung des "Neuen Forums" beschränkte.
Durch die Organisatoren wurde erklärt, dass sie ihre Aktivitäten als eine "politische Bürgerinitiative" verstehen. Die vorgesehenen Gruppendiskussionen auf der Grundlage des vorher verteilten "Problemkataloges" wurde ergebnislos abgebrochen. Zum Abschluss der Veranstaltung erfolgte die Orientierung auf die Weiterführung vielfältiger Aktivitäten sowohl in analoger Größenordnung (Stadtjugendabend am 6. 10. 1989) als auch auf Gruppenbasis. Angestrebt wird eine Organisation der "politischen Bürgerinitiative - Neues Forum" auf Kreisebene.
Bedeutsam ist das Auftreten der verantwortlichen Pastoren R(...) und S(...), die zu Beginn und im Verlauf der Veranstaltung erklärten, dass staatlicherseits die Durchführung dieser Veranstaltung untersagt worden sei, sie sich aber ausdrücklich mit Form, Inhalt und Zielen derselben identifizieren.
Die bisherige Personifizierung von Personen aus dem Teilnehmerkreis belegt die erhöhte Teilnahme neben bereits bekannten Personen aus dem klerikalen Bereich solches Personenkategorien wie Mediziner, Künstler und Kulturschaffende, Angehörige der technischen Intelligenz und der Arbeiterjugend. Aus den während der Veranstaltung zum Teil spontan erfolgten Wortmeldungen ist ersichtlich, dass sich der überwiegende Teil der Anwesenden mit den vorgenannten Pamphleten und den darin enthaltenen Aussagen identifiziert. Mehrere Personen forderten dazu auf, durch eigne Handlungsaktivitäten in allen gesellschaftlichen Bereichen kurzfristig für Veränderungen im Staats- und Gesellschaftssystem der DDR wirksam zu werden.
Trotz der durch die Organisatoren nicht erreichten Zielstellung sowohl hinsichtlich der Formierung ihrer sogenannten "politischen Bürgerinitiative" als auch in Bezug auf die Festlegung konkreter Organisationsformen werteten diese die hohe personelle Beteiligung als Erfolg und Bestätigung ihrer inhaltlichen Zielstellungen und Absichten. Besonders hervorgehoben wird durch diese Kräfte die organisatorische und inhaltliche Unterstützung durch negative klerikale Kräfte, das insbesondere in der Bereitstellung kirchlicher Räumlichkeiten, trotz ausdrücklichem Verbot der staatlichen Organe, zum Ausdruck gekommen sei.
Die Teilnahme von Personen aus anderen Bezirken werten die Organisatoren auf, die darüber hinaus gezielt ihre Orientierungen gegenüber den anwesenden Personen aus verschiedenen Kreisen des Bezirkes Schwerin verbreiten konnten.
Intern wurde erarbeitet, dass die Führungskräfte des "Neuen Forums" des Bezirkes Schwerin folgende Überlegungen in ihre Pläne und Absichten einbeziehen:
- "Mit der Umbenennung der Bürgerinitiative "Neues Forum" in "politische Bürgerinitiative" hat sich am Inhalt nichts geändert, nur an der Form. Die "politische Bürgerinitiative" ist noch massenwirksamer und weniger anfechtbar durch den Staat."
Der hinlänglich bekannte L(...) hat mit mehreren Vertretern des Führungskerns des "Neuen Forums" erste Abstimmungen vorgenommen und beabsichtigt damit, die Vereinigungs- und Sammlungsaktivitäten im Bezirk Schwerin aus der Bezirksstadt zu verlagern und mit der Durchführung einer Veranstaltung am 27. 10. 1989 im kirchlichen Objekt "Grüner Winkel" Güstrow selbst neuen Zulauf zu gewinnen.
In der DDR gibt es mit der Koordinierung der bestehenden Gruppen wegen bestehender Rivalitäten Schwierigkeiten. Die Leiter der Gruppen können sich menschlich nicht ausstehen, z.B. bestehen Rivalitäten zwischen Bärbel BOHLEY und EPPELMANN, und es ist notwendig, hier wirkungsvoll zu vermitteln, um die Rivalitäten abzubauen. Es gibt trotz dieser Rivalitäten inhaltliche Übereinstimmung bezüglich der Ziele, der Erfolge und der "Entwicklung der Demokratie."
Aus diesem Grund könne man gut miteinander auskommen, auch ohne Spannungen.
Im Moment hat noch keiner den "Gesamthut auf - jeder trägt seiner Hut", man muss auch sehen, wenn sich das etwas konsolidiert hat, dann werden auch die Differenzen deutlicher, man kann über sachliche Probleme reden. Jetzt muss jeder seine Identität finden. Jede Gruppe und jede Person muss sich unter den verschiedenen Gruppen seine Gruppe suchen und sich selbst anbieten. Die Gruppen müssen aber auch inhaltlich Angebote machen, ansonsten verläuft sich alles wieder.
Die Bedeutung des 40, Jahrestages ist nach außen groß und bietet Chancen, diesen Jahrestag richtig auszuschöpfen und neue politische Tatsachen zu schaffen. Man muss mit Macht umgehen und Macht organisieren können. Dieses Staatssystem, dieses Gebilde, das 40 Jahre versucht hat, Wurzeln zu schlagen, ist in einer inneren Auflösung begriffen. Es wird nur noch durch die Macht nach außen festgemacht, aber in der inneren Substanz ist es völlig aufgezehrt. Es hat keine Zukunft. Es ist nur noch der Erhalt des Bestehenden von jenen, die an dieser Stelle ihre Privilegien erhalten wollen.
- Die BRD macht Geschäfte mit den Menschen der DDR, die in der BRD machtlos sind. Sie arbeiten billiger, denn für sie ist wichtiger, dass sie überhaupt Arbeit und Wohnung bekommen. In der BRD ist es weit schwieriger, persönliche Werte zu erhalten und danach auch zu leben, weil der Versuchung der Umwelt widerstanden werden muss, die viel höher ist. Das Konsumdenken ist sehr verbreitet. Beim Vergleich kommt es darauf an, die Qualität des Lebens zu bestimmen. Zwischen den beiden deutschen Staaten sind die Voraussetzungen und Ausgangspunkte unterschiedlich. Deshalb muss jeder an seinem Platz, zu seiner Zeit und an seinem Ort zu sich selbst finden und seinen Standort bestimmen.
- Der Aufbruch in der DDR zeigt, dass alle die "aussteigen" und "ausbrechen" aus den Kreisen stammen, die keine Privilegien haben. Privilegien haben 2 %. In der DDR werden die Menschen permanent zu Krüppeln gemacht, besonders seelisch.
- Die Veranstaltung der "Bürgerinitiative" zeige ein "neues Denken" an, es ist aber noch an der Oberfläche und geht nicht an die Substanz.
In Auswertung der vorgenannten Veranstaltung erfolgt die Fortführung der Identifizierung des Teilnehmerkreises und die Einleitung gezielter Maßnahmen differenzierter Art gegen bzw. zu Personen, die sich maßgeblich an der Vorbereitung und Durchführung vor Veranstaltung beteiligt haben. Gegen die Pastoren R(...) und S(...) sowie weitere Verantwortliche der Veranstaltung wird die Einleitung von Ordnungsstrafverfahren geprüft und durchgeführt.