Huckepack-Listenplätze und Sattelmandate

Dokumentation

In den letzten Wochen gab es aufgrund der erklärten Absicht einiger Volkskammerabgeordneter der Fraktion Bündnis 90/Grüne, auf SPD-Listenplätzen für das erste gesamtdeutsche Parlament zu kandidieren, heftige Kontroversen zwischen den Basisgruppen des Bündnisses und der Volkskammerfraktion. In diesem Zusammenhang bat uns [die andere] der Abgeordnete Jens Reich (NEUES FORUM), folgenden Text zu veröffentlichen.

Das NEUE FORUM will auch Vertreter im Parlament haben. Das steht im Statut. Es geht nicht ausschließlich darum, aber man kann es eben sowenig als Pöstchensicherung und Profilsucht abtun, wenn Mitglieder dieses Ziel anstreben und nicht nur davon reden.

Die Volkskammerabgeordneten kandidierten für vier Jahre und wurden für eine solche Legislatur gewählt. Auch aus diesem Grunde kann man sie nicht gleich als Parteiseilschaft bezeichnen, nur weil sie sich darauf eingestellt haben, Mitarbeiter gewählt, und die Absicht haben es auf mehr als auf 6 Monate zu bringen.

Den Volkskammerabgeordneten des NEUEN FORUM wird vorgeworfen, dass sie diätengeil sind. Ich kann für mich hier sagen, dass ich nicht für diese Regelung gestimmt habe, dass ich keine 4 000 DM netto für die Tätigkeit haben möchte und dass ich das Geld, das mir nach Abzug meines früheren Nettogehaltes und der für einen Abgeordneten notwendigen Aufwendungen bleibt, weitergeben werde (bisher habe ich größere Summen für die Aktion "Ferien für Kinder aus Tschernobyl" gegeben). Ich habe auch nur die 4 000 Mark wie alle anderen umgetauscht bekommen und habe kein Westauto mit Abgeordnetenrabatt gekauft. Es gibt keine Versammlung, auf der ich nicht auf die Diäten und Privilegien angesprochen werde. Ich finde die Empörung berechtigt; aber ihr versteht sicher, dass es nervend ist, wenn man sich ständig verteidigen muss, als hätte man sein Geld durch Hehlerei erworben. Ich habe mich in meinem bisherigen Beruf nicht wegen überhöhter Einkünfte verteidigen müssen, und diese neue Situation ist ein Motiv für mich, dass ich wieder aus dieser Abgeordnetentätigkeit heraus möchte.

Es wird uns vorgeworfen, dass wir abgehoben sind, seit wir gewählt wurden. Ich selbst habe die Vollversammlungen meiner Basisgruppe in Pankow, die Sprecherratsitzungen dort, den Landessprecherrat und seine Ausschussmitglieder regelmäßig besucht. Ich war auch auf Landeskonferenzen und habe bei Demonstrationen mitgemacht. Zutreffend ist allerdings, dass das alles unter ständigem Zeitdruck geschieht und dass die Abgeordnetentätigkeit in den Ausschüssen und im Parlament unglaublich zeitaufwendig ist und man sich auch ernstlich fragen muss, ob es diesen Aufwand lohnt. Ich bin enttäuscht, dass so wenig Kraft und Zeit für ruhiges Nachdenken über die Vergangenheit und die politische Strategie der Zukunft bleibt. Ein weiterer Grund nachzudenken, ob ich im richtigen Job gelandet bin.

Es wird uns vorgeworfen, dass wir unser Mandat überziehen, das darin bestünde, den politischen Willen der Basis zu transportieren. Meine Antwort: ja, Mandat der Basisgruppen und der Wähler, und nicht als Auftragsbriefträger, sondern indem man die Ziele einer alternativen Bürgerpolitik in die gesetzliche und kontrollierende Arbeit der Volkskammer mit seinen Kompetenzen einbringt. Ich bin zum Beispiel im Gesundheitsausschuss und kämpfe dafür, dass die Medizin in Zukunft hier nicht total kommerzialisiert wird. Da habe ich einer Unmenge zu lesen und zahllose Konsultationen und Beratungen mit Ärzten, Apothekern, Schwestern, der Kassenärztlichen Vereinigung, den Ärzteverbänden usw., viel zu wenig, denn ich bin zwar Arzt, aber eben auch nicht überall automatisch firm. Außerdem werde ich in einem Ausschuss arbeiten, der den Missbrauch der Psychiatrie für die Stasi und die Bürokratie (Stichwort: Waldheim. Röntgenkastrierung, Zwangsisolierung) aufzuklären hat. Glaubt mir: Das sind unglaublich zeit- und kraftaufwendige Arbeiten, Reisen usw., und ich kann nun nicht alle Briefe. Anfragen und Anregungen auf anderen Gebieten selbst erledigen, sondern muss an die anderen Abgeordneten abdelegieren. Wir sind sieben vom neuen Forum und zwanzig in der Fraktion Bündnis 90/Grüne, und alle ähnlich zeitbelastet wie ich.

Also: Mein Mandat besteht darin, dass ich auf den Gebieten, von denen ich etwas verstehe, arbeite und achtgebe, dass nicht bürgerfeindliche, autoritäre Gesetze und Verordnungen gemacht werden. Nicht alles kann man gegen die massiven Mehrheiten erreichen, aber doch manches. Auch ein CDU-Mann lässt sich überzeugen, dass wir nicht alle Polikliniken in Privatpraxen zerschlagen und uns dann wundern sollten, wenn die Kosten ins Unermessliche steigen.

Jetzt zu den politischen Aktivitäten. Mit Wahlen, Listenplätzen und so. Es wird uns vorgeworfen, dass wir hier Privatverhandlungen führen, ohne die Basis zu konsultieren.

Es ist zutreffend, dass wir kein Mandat haben, Wahlvorschläge auszuhandeln. Es steht uns nicht zu, im Namen unserer Bürgerbewegungen über Listenplätze zu verhandeln und uns vielleicht selbst darauf zu setzen. Wer auf Listenplätze bei den Grünen oder bei der SPD will, sollte das mit seiner Organisation zusammen verhandeln oder als Privatmann (-frau) auftreten, wobei man im letzteren Fall das Argument nicht abweisen kann, dass man als Abgeordneter gar nicht richtig privat verhandeln kann, weil der Bekanntheitsgrad mit dem Mandat zusammenhängt und man nicht einfach als Unbekannter von der Pieke auf in einer Partei anfangen kann.

Ich habe mich an dem Gespräch mit Lafontaine-Thierse nicht beteiligt, weil ich die Empfindlichkeiten im NEUEN FORUM nicht nähren will, wenn die Fraktion da allein verhandelt. Aber ihr könnt mir glauben: Was da gelaufen ist, wurde von der Presse aufgebauscht. Auch die Überlegungen von Herrn Vogel werden wichtiger genommen als sie gemeint sind. Es gibt kein Listenangebot der SPD an die Bürgerbewegungen, und es wird nach meiner Einschätzung auch keins geben. Es kann für uns auch keine solche Abmachung geben, solange die SPD die Regierung mit trägt. Und solange sie auf einer gesamtdeutschen Fünfprozentklausel beharrt, die uns jede eigene Chance abdreht. Und noch aus anderen Gründen.

Mit den Grünen sieht es etwas anders aus. Die Fraktionsarbeit mit den Abgeordneten der Grünen Partei läuft produktiv und gut. Es gibt genügend Politische Übereinstimmung, um ein Fraktionsbündnis zu rechtfertigen, um mit der Aufgabe fertigzuwerden, mit wenigen Leuten eine einigermaßen effektive Politik zu machen. Ich kann aus dieser Erfahrung nur empfehlen, diese Zusammenarbeit fortzusetzen. Andere mögen schlechtere Erfahrungen haben, das sollen sie deutlich darstellen. Was ich nicht gut fände, wäre gegen eine solche Zusammenarbeit aus Vorurteil zu sein, ohne eigene Erfahrungen versucht zu haben.

Die West-Grünen haben von Anfang an ganz erheblich Hilfe geleistet, fachliche Unterstützung gegeben und uns materiell und spirituell enorm beraten und geholfen. Natürlich sind sie nicht die Heilsarmee und haben da auch Hoffnungen und Pläne für ein Zusammengehen in Zukunft. Und natürlich bin ich nicht so naiv zu übersehen, wie deren Flügelgerangel da hineinspielt. Ich halte die Interessen und Hoffnungen aber für legitim und kann sie nicht als hinterhältige Intrige sehen.

Meine Meinung ist, dass man mit den Grünen Listenverbindungen bei den Wahlen machen könnte, sich aber nicht (oder nur mit großer Vorsicht) auf irgendwelche organisatorischen Verbindungen einlassen sollte, weil dann die Gefahr besteht, dass wir zur Partei werden. Listenverbindungen mit anschließender Fraktionsgemeinschaft ohne organisatorische Vereinigung sind im neuen Länderwahlgesetz möglich und können von den Landesverbänden genutzt werden, um die undemokratische 5%-Klausel unwirksam zu machen. Das Bundeswahlgesetz verbietet sie, und ein Zusammengehen mit den Grünen unter diesem Wahlgesetz macht deshalb Fusion oder Anschluss notwendig. Oder man delegiert unsere Kandidaten als Gäste auf die Listen der Grünen. Dann haben wir die fremde Überschrift (bei einer Partei) und natürlich auch eine bittstellerische Verhandlungsposition. Das macht mir alles Bauchschmerzen, und trotzdem kann ich die Argumente derer verstehen, die darauf eingehen wollen, damit wir uns nicht gegenseitig an der 5%-Hürde die Ellbogen in den Bauch stoßen. Noch ist übrigens möglich, dass die CDU sich durchsetzt und DDR-extra mit der kleineren DDR-5%-Klausel gewählt wird. Dann muss wenigstens nicht mit den West-Grünen fusioniert werden.

An der Initiative "Bürgerbündnis" gefällt mir, dass es von unten kommt und nicht von Fraktionen, Landesräten usw. Sie sollten den Inhalt einer bürgernahen Politik und ihr Verhältnis zur Parteipolitik (also auch zu Koalitionen usw.) deutlicher darstellen und nicht nur über Wahltermine, Listen und Klauseln reden. Das Dilemma ist, dass in vielen Gegenden (ich kenne das aus Halberstadt) die Bürgerbewegten nur das NEUE FORUM kennen, als solches einen guten Ruf haben und deshalb keine Lust, ständig unter neuen Tarnkappen aufzutreten, wo dann die Wähler sagen, sie hätten das NEUE FORUM gewählt, wenn es auf dem Wahlzettel gestanden hätte. Umgekehrt gibt es Gegenden (wie in Berlin-Pankow), wo die Zusammenarbeit der verschiedenen Bürgerbewegungen gut klappt und sie sehr gern sich zu einem solchen Bürgerbündnis zusammenschließen wollen und es natürlich als arrogant ablehnen, wenn sie unter dem Namen "NEUES FORUM" gehen sollen.

Ich weiß keine Lösung für dieses Dilemma. Es kommt dadurch zustande, dass man zu Wahlen in festen überregionalen Organisationen mit einheitlichem Namen antreten muss. Ich weiß nur, dass ich an keinem Wahlkampf auch nur mit dem geringsten Einsatz teilnehmen werde, wenn auf dein gleichen Wahlzettel "NEUES FORUM nackt" gegen "NEUES FORUM, in ein Bürgerbündnis verpackt" kandidieren würde. Ich überlege immer noch an einer konstruktiven Lösung.

Was ich nicht besonders originell finde, sind diese Medienduelle zwischen den Vertretern verschiedener Auffassungen. Tut mir leid, das ist für mich Neuaufguss von linken Politschlachten, die ich seit Jahrzehnten beobachte. Ich finde das durchaus unterhaltend. Wie wenn Dick und Doof sich mit Sahnetorten bewerfen. Es gehört auch in gewissem Maße zu unserer politischen Kultur. Aber es sollte die politische Handlungsfähigkeit nach Möglichkeit nicht blockieren.

Jens Reich

die andere, Der Anzeiger für Politik, Kultur und Kunst, Nr. 28, Mi. 01.08.1990

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