Wir haben nicht viel Zeit
Offener Brief von Linken in der SPD, Oppositionellen und Mitgliedern des Bündnis 90 an das Bündnis 90 und die Grünen in Ost-Berlin zur Magistratsbildung / Aufruf zu einer Koalition mit den Sozialdemokraten auch unter Einschluss der Ostberliner CDU
DOKUMENTATION
Die Schwäche der Linken, das ist historisch belegt, bestand oft darin, dass sie ihren eigenen moralischen Heroismus in der gesellschaftlichen Abseitsposition pflegte. Das Bündnis 90 und die Grünen müssen jetzt beweisen, dass sie aus der Geschichte gelernt haben. Sie repräsentieren in Berlin zusammen mehr als 12 Prozent der Wählerinnen und Wähler. Soll also jede/r achte Wahlberechtigte dem Bündnis und den Grünen ihre Stimme gegeben haben, damit die politische Gruppierung ihres Vertrauens im noblen Abseits die Reinheit ihrer Gesinnung pflegt? Dabei wissen wir doch gemeinsam:
Es gibt keine politische Verantwortung ohne Macht. Macht ohne Moral wird verbrecherisch. Aber Moral ohne Macht löst keine Probleme, wird zur Ideologie und verurteilt, ohne zu helfen. Wollt Ihr das? Wollt Ihr Euch die Hände nicht mit konkreter, immer auf Kompromisse verwiesener Politik beschmutzen, um dann mit dem erhobenen sauberen Finger auf die Schmutzfinken, die sozialdemokratischen "Realpolitiker" zeigen zu können? Euer moralisch-politischer Rigorismus dient nur der Spaltung, und er lähmt die politische Linke.
Dabei brauchen wir einander! Die Linken der SPD und der Bürgerbewegungen! Nicht, um einander die Hände zu halten, uns gegenseitig zu trösten und in Erinnerungen an den heroischen Herbst zu schwelgen, sondern um die Intentionen unseres gemeinsamen Aufbruchs umzusetzen in Politik, das heißt in konkrete Handlungsziele, also in Teilziele, die Schritt für Schritt nur zu verwirklichen sind. Jetzt, wo die Mühen der Ebenen beginnen, soll und darf die historische Leistung, einen von einer fast allmächtigen Partei okkupierten Polizeistaat in kürzester Zeit aus den Angeln gehoben zu haben, nicht umsonst gewesen sein!
Das Bündnis 90 und die Grünen haben die Chance, gemeinsam mit der SPD als stärkster politischer Kraft in Berlin und anderswo praktische Politik zu machen. Die Potsdamer, Brandenburger und Rostocker Freundinnen und Freunde haben den Ernst der Stunde erkannt und die Konsequenzen gezogen, indem sie eine Koalition unter der Führung der SPD und der Beteiligung der CDU eingingen. In diesen Koalitionen ist das Bündnis 90/Grüne immer der stärkere Juniorpartner mit erheblichem Einfluss auf die konkreten Maßnahmen der Politik. Das sollte die - uns durchaus verständliche - Abneigung gegen ein Zusammengehen mit den Konservativen überwinden helfen.
Die Lösung der vor uns stehenden Fragen ist nicht aus der Opposition heraus zu finden, in der sich die SED-PDS bereits bequem eingerichtet hat, um mit Maximalforderungen den Prozess der Vereinigung und der tief greifenden Erneuerung der deutschen Demokratie zu bremsen. Wer heute kritisch ins Geschehen eingreifen will, kann das am besten, indem er in der Koalition mitregiert. Bei dem Tempo des Prozesses darf auch die gesamtdeutsche und Gesamtberliner Perspektive nicht übersehen werden. Es kommt darauf an, die Mauer wirklich abzubauen - und nicht das Abbauen durch andere unter Applaus zu fotografieren.
Die Geschlossenheit des Bündnisses 90 und der Grünen bei der Ablehnung der von der SPD vorgeschlagenen Koalition zwischen SPD, Bündnis 90, Grüne und CDU erinnert uns in ihrer ideologischen Rigorosität schon wieder an alte Parteien. In der SPD jedenfalls verläuft der Prozess der politischen Meinungsbildung nicht so starr und vorausbestimmt. Es gibt verschiedene Vorstellungen zu einer künftigen Koalition und nicht, wie in den letzten Tagen in der Presse zu lesen war, nur den einen Wunschpartner CDU. Auch die CDU ist bereit aus welchen Gründen auch immer - in einer Koalition zwei starke linke Kräfte zu akzeptieren. Wir fragen die Basis von Bündnis 90 und Grüne, warum sie nicht die historische Chance der politischen Mitgestaltung ergreifen wollen, um Signale und Beispiele zu geben für den sich auftuenden größeren Raum. Warum sollen die politischen Kräfte des Herbstes 1989 draußen vor der Tür stehen, nur um jetzt der Naivität zu frönen, "moralisch rein" zu bleiben? Wir alle haben gelernt und wissen, dass Politik sich in dem Verhältnis von Konsens und Dissens abspielt. Dieser Widerspruch wird produktiv nur durch den Kompromiss aufgelöst. Wer nicht zu Kompromissen fähig ist, der ist nicht politikfähig.
Wenn jetzt nicht das realpolitische Optimum versucht wird, ist nach der Vereinigung kaum noch ein Minimum zu erreichen. Das sollten alle jene bedenken, die sich jetzt aus hehren Prinzipen verweigern.
Wolfgang Thierse, Thomas Krüger, Eva Kunz, Heinrich Olschowski, Friedrich Schorlemmer, Konrad Weiß, Joachim Gauck, Edelbert Richter
die tageszeitung, Fr. 18.05.90 Berlin lokal