Koalition ist eine Vernunftehe

Der neue Mann an der SPD-Spitze: Wolfgang Thierse

46 Jahre ist der neue SPD-Vorsitzende Wolfgang Thierse und Germanist. Dann sieht er auch die vorrangigsten Unterschiede zu seinem Vorgänger und seinen Mitkandidaten um das Amt. Es ist für ihn "nicht ganz unwichtig", dass er weder 34 noch Pastor ist, weil "die SPD ja versucht, in ihrem Selbstverständnis und ihrer Selbstdarstellung eindeutiger, geschlossener und zugleich attraktiver zu werden". Nach Wolfgang Thierses Einschätzung haben viele Delegierte des SPD-Parteitages "jemanden gesucht, der Integrationsfähigkeit ausstrahlt, Kompromissbereitschaft und Gesinnungstreue miteinander verbindet und das vielleicht auch noch auf eine ansteckende Weise".

Wir befragten den SPD-Vorsitzenden zu einigen aktuellen Aufgaben, denen er und seine Partei sich gegenübersehen.

Herr Thierse, Sie haben sich in Halle zu zwei Zielen bekannt, die voraussichtlich nur schwer zu verwirklichen sind. Ich meine einen zweiten Staatsvertrag und einen Volksentscheid zur Einheit Deutschlands. Wie wollen Sie versuchen, beides in die Praxis umzusetzen?

Ich denke, es gibt eine über die SPD hinausgehende Übereinstimmung darin, dass ein Beitritt nach Artikel 23 GrundgesetzArtikel 23, den ja eine große Mehrheit der politischen Kräfte in der DDR will, nicht bedingungslos vollzogen wird, sondern dass man vorher zwischen Bundesrepublik und DDR die Bedingungen dieses Beitritts verhandelt und festschreibt. Das ist gemeint mit dem Stichwort zweiter Staatsvertrag: Schritte festzulegen, in denen der Prozess der Rechtsangleichung zwischen den beiden deutschen Staaten vollzogen wird. Und wenn ich Rechtsangleichung sage, dann meine ich die rechtlichen Regelungen, durch die unser Alltagsleben bestimmt wird. Jeder DDR-Bürger weiß, welche Unterschiede zwischen Ost und West da bestehen und noch einige Zeit bestehen werden.

Zweitens ist es doch auch sinnvoll, vor dem Beitritt zu vereinbaren: Was sollten wir tun, wenn das Grundgesetz ja ohnehin verändert werden soll. Es ist in den Koalitionsvereinbarungen zu Beginn der Regierungstätigkeit ja festgelegt, dass wir genau darüber reden und bestimmte Ziele verfolgen wollen bei der Novellierung und Modernisierung des Grundgesetzes, also etwa die Aufnahme von sozialen Grundrechten als Staatsziel beschreiben. Das ist ja nicht nur eine Forderung der SPD in der DDR. Ich glaube, da gibt es auch einen breiten Erfahrungshintergrund bei der Bevölkerung der DDR. Es gibt auch viele Kräfte in der Bundesrepublik, die sagen, dass das eine sinnvolle Modernisierung des Grundgesetzes wäre, und es ist doch empfehlenswert, diese Modernisierung schon zu vereinbaren, bevor man diesen Beitritt vollzieht.

Drittens, denke ich, ist es unerhört wichtig, dass in einem viel größeren Ausmaß als bisher das deutsche Volk an der Konstituierung dieses gemeinsamen Staates beteiligt wird. Es kann doch ein gesamtdeutscher Staat nicht nur durch einen Vertrag zwischen Regierungen hergestellt werden. Das Volk muss die Möglichkeit haben zu sagen: Ja, wir wollen das so. Ich glaube, das ist ein besserer Grund, auf dem dann dieses gemeinsame Deutschland liegt. Und deswegen sind wir auch für einen Volksentscheid über die Modernisierung des Grundgesetzes.

Nun gibt es ja noch zwei Völker, deren Interessen, so glaube ich, derzeit auseinanderstreben. Das eine Volk, und das ist das größere, glaubt, dass es mit der Vereinigung materielle Verluste einkalkulieren muss, und das andere erhofft sich vorwiegend Gewinn ...

Ich würde vielleicht nicht von zwei Völkern reden, aber ich denke, dass es wirklich Interessenunterschiede gibt zwischen der Bevölkerung der Bundesrepublik und der DDR. Die DDR-Bevölkerung möchte durch die Vereinigung einen Aufschwung erleben. Sie möchte, dass die unvermeidlichen Risiken des Einigungsprozesses, die Risiken des ganz schnellen Übergangs von einer zentralistischen Planwirtschaft zur Marktwirtschaft sozial abgesichert werden, und das kostet zunächst einmal Geld, ehe ein Aufschwung kommt. Und dieses Geld kann angesichts der wirtschaftlichen Misere, in die die DDR gebracht worden ist, nicht von ihr selbst, sondern von der Bundesrepublik kommen. Nun hat eine Mehrheit der Bevölkerung der Bundesrepublik sicher das Interesse, dass die Einheit nicht so teuer werden soll und die Kosten der Einheit nicht nur von den kleinen Leuten bezahlt werden.

Diesen tatsächlich vorhandenen Interessenunterschied fechten nur die beiden sozialdemokratischen Parteien aus. Ich bedaure, dass er offensichtlich in der Politik der beiden christlich-demokratischen Unionen überhaupt nicht zum Thema wird, gar nicht umstritten ist. Und hier muss die SPD eine Stellvertreterrolle übernehmen. Sie wird dafür möglicherweise noch beschimpft werden.

Daran anknüpfend möchte ich die Frage stellen, ob sich unter Ihrem Parteivorsitz in der Regierungsarbeit der SPD etwas ändern wird?

Das kann ich jetzt noch nicht sagen. Natürlich: Wenn man in eine Koalition geht, sagt man sich zu, dass man ein verlässlicher Partner sein will. Ich denke, das muss in der Politik so sein wie sonst im Leben. Aber eine Koalition ist ja eine Vernunftehe. Man tut sich zusammen, um erreichbare Ziele auch wirklich erreichen zu können. Dabei wird es auch immer Streit geben, unterschiedliche Interessen und Politikkonzepte; vor allem unterschiedliche Lösungsvorschläge werden aufeinander prallen - umso schwieriger die Probleme sind und um so schärfer die sozialen Konflikte sind, die durch politisches Handeln geregelt werden müssen. Ich denke, im Herbst werden wir schärfere soziale Konflikte erleben, und das wird unausweichlich die Parteien dazu führen, auch schärfere Konturen zu zeigen. Damit werden sich auch ihre Lösungsvorschläge stärker unterscheiden als bisher.

Wieweit sollte Ihrer Meinung nach Oskar Lafontaine gehen mit seinen Vorbehalten gegen den Staatsvertrag?

Ich denke, was Oskar Lafontaine inhaltlich tut, ist hoch sinnvoll. Er versucht, mit der westdeutschen SPD zusammen, noch einige Dinge zu erreichen, die wir nicht haben erreichen können, weil wir die kleinere Partei sind; also die Nachforderungen zu den Strukturanpassungsmaßnahmen für die DDR-Wirtschaft, um eine größere Anzahl von Betrieben doch noch zu retten. Die Forderung nach stärkerer Berücksichtigung des Umweltschutzes ist ebenso sinnvoll, auch die Forderung, das Eigentum von SED und Stasi nicht so ohne weiteres umzutauschen. Damit vertreten Oskar Lafontaine und die West-SPD ja die Interessen von DDR-Bürgern.

Es gibt dabei ein anderes Problem: Um diese Ziele zu erreichen, musste die SPD, die ja parlamentarische Opposition ist, also nicht an den Verhandlungen beteiligt war, außerordentlichen öffentlichen Druck machen. Und öffentlicher Druck hat ja auch die Eigenschaft, dass er manchmal zum Selbstläufer wird und eine emotionale Bewegung in Gang setzt, die man dann vielleicht nicht mehr ganz auffangen kann. Das ist der Punkt: Ich denke, beide sozialdemokratischen Parteien sollten dafür sorgen, ich glaube sie werden es auch tun, dass die Stimmung nicht umschlägt gegen die Vereinigung. Das entspräche auch nicht dem Selbstverständnis der Sozialdemokraten. Sozialdemokraten sind die Partei der deutschen Einheit, und das sind sie schon sehr lange. Daran hat auch Oskar Lafontaine nichts geändert. Ich bin sicher, dass die SPD in der Bundesrepublik dem Staatsvertrag zustimmen wird.

Die beiden sozialdemokratischen Parteien stehen, wie andere Parteien auch, kurz vor dem Zusammenschluss. Die SPD wird dann vereinen müssen die Rolle der Oppositionspartei mit der Rolle des Koalitionspartners. Wie soll das gehen?

Ich denke, unterschiedliche Rollen sind kein wirkliches Hindernis für das Zusammengehen. Wichtig ist, dass beide Parteien ihre Interessen wohl definieren, Interessenübereinstimmung feststellen werden und, davon ausgehend, ein gemeinsames politisches Programm formulieren und mit diesem Programm auch den richtigen Kandidaten wählen. Das wird sicher ganz gut gehen, wobei ich denke, dass wir die Definition jeweils eigener Interessen ernster nehmen als andere Parteien, die den Einigungsprozess offensichtlich nur als einen organisatorischen Vorgang begreifen.

Welche Chancen sehen Sie für die SPD bei den ersten gesamtdeutschen Wahlen?

Ich bin kein Prophet. Dazu sage ich nichts.

Die Fragen stellte
Carola Schütze

Neue Zeit, Mi. 13.06.1990, Jahrgang 46, Ausgabe 135

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