"Hoffnung wird nur über die Katastrophe vermittelt"

Mit Rudolf Bahro im Gespräch über die Chancen einer weltweiten ökologischen Wende / Die Verhängnisvolle Wirkung von Wissenschaft und Technik

MORGEN: Herr Bahro, Sie kehrten nach der politischen Wende in die DDR zurück, mit welchen Hoffnungen?

BAHRO: Ich bin im November 1989 gleich in die Humboldt-Universität gegangen und habe gesagt, ich möchte hier über Grundlagen ökologischer Politik lehren und ein Institut dazu aufbauen. Es ist bisher immerhin so weit gekommen, dass mich der Minister der letzten DDR-Regierung Mitte September diesen Jahres zum Außerordentlichen Professor für Sozialökologie an die Humboldt-Universität berufen hat.

MORGEN: Ein von Ihnen "erfundener" Lehrstuhl?

BAHRO: Ich weiß nur noch einen einzigen Ort auf der Welt, Auckland in Neuseeland, wo der Begriff ungefähr so gedacht ist. Im allgemeinen wird mit Sozialökologie zweierlei verbunden: einmal, wenn es sich um Techniker handelt, die sich z.B. lange mit Solarenergie befassen, dann stoßen sie natürlich bald darauf, dass die Widerstände sich nicht in der Konstruktion auftun, und im Grunde nicht mal ökonomischen Ursachen haben, sondern sozialer Art sind. Sozialökologie ist da, um der Öko-Technik zum Durchbruch zu verhelfen. Das ist ein Konzept. Methodisch gesehen gleicht es natürlich sehr der hier früher gängigen Theorie vom subjektiven Faktor.


"Die Umweltkrise ist zwar psychologisch von vielen Leuten verstanden worden. Aber was an umweltschützerischer Praxis läuft, ist ein ungeheurer Selbstbetrug, gerade auch der Aktivisten."


Die zweite übliche Auslegung von Sozialökologie ist statt der Techniker - die Sozialarbeiterperspektive - also was machen unsere Städte, was macht unsere Industrie mit den Betroffenen. Auch ein wichtiger Zugang, aber wie der erste falsch, wenn es der Zugang sein soll.

MORGEN: Können Sie das etwas näher erläutern? Sie meinen mit den Betroffenen die Umweltopfer?

BAHRO: Ja. Wenn beispielsweise Luftwerte gemessen werden, und man dann die Frage stellt, wie kann der Mensch sich vor der Vergiftung der Umwelt schützen?, geht das in therapeutische Bereiche hinein, zu denen es auch zählt, nur unterm Strich kann man hören: 80 Prozent der Probleme seien ja eigentlich stadtökologischer Art, einfach deshalb, weil 80 Prozent der Leute bei uns in Städten leben. Was dabei untergeht, ist die Frage, ob nicht möglicherweise solche Riesenstädte an sich das ökologische Problem sind. Das sind begrenzte Zugänge.

Was ich hier betreibe, geht von der Frage aus, warum der Mensch Leben und Erde zerstört. Der Mensch, das ist jeder einzelne, aber auch die Kommune, das Land, das Volk, die Menschheit, das Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse. Nicht alles, was Marx gesagt hat, war falsch.

MORGEN: Auf die Ex-DDR bezogen: Im Dezember 1989 haben Sie gesagt, Sie sehen in diesem Land die Chance zur ökologischen Wende. Nun sind die Dinge seitdem etwas anders verlaufen. Sehen Sie diese Chance überhaupt noch oder ist die vertan?

BAHRO: Der Katastrophenkurs beschleunigt sich durch die Integration der Ex-DDR in die westdeutsche Gesellschaft, überhaupt dadurch, dass jetzt das Imperium des weißen Mannes in Kürze bis Wladiwostok reicht. Die ökologische Krise ist ja nicht Umweltkrise. Ihrem Wesen nach ist das die Weltzerstörung durch den industriell bewaffneten Menschen. Das wird das Gleichgewicht der Erde stören. Die Umweltsorge, die zunächst im allgemeinen Bewusstsein in den Vordergrund tritt, ist noch ein Selbstablenkungsmanöver im Namen der Umwelt.

MORGEN: Man könnte das "Um" weglassen, denn es geht um Weltzerstörung und nicht "nur" Umweltzerstörung.

BAHRO: Ja. Bloß unter diesem Gesichtspunkt ist dann Herr Töpfer Minister für Täuschung. Die ist von hier gesehen perfekter als "drüben". "Drüben" ist sie eigentlich durchschaut. Man rennt mit Sandsäcken herum, versucht mit ihnen tausend Löcher zu stopfen. Eigentlich geht es um Illusionen, und die Gesellschaft wünscht ja auch diesen Trost. In Wirklichkeit sind aber solche Tröstungen dazu da, den Fortgang der Massenproduktion zu sichern. Die Massenproduktion und deren Grundlast ist die Katastrophe.

MORGEN: Lehren Sie einen Ausweg?

BAHRO: Die Antwort hängt davon ab, ob die Frage geduldig oder ungeduldig gemeint ist. Wenn sie ungeduldig gemeint ist, muss ich sagen: Nein. Ich glaube, dass der Homo sapiens, so wie er anthropologisch, soziologisch, psychologisch statistisch festgehalten ist, derselbe ist, von dem es im Volksmund heißt: Der Mensch, wie er nun mal ist, der ist verloren. Ich sehe nicht, dass er den Gang der Dinge noch aufhalten kann. Wenn es noch irgendeines Beweises bedürfte, dann ist das der Drang der DDR-Gesellschaft in die "Erste Klasse". Aus welchem Grund eigentlich sollte man irgendeinem Menschen auf der Welt verwehren, diese westliche Verschwendungsgesellschaft teilen zu dürfen? Schon für fünf Milliarden Menschen, die so leben wollen, wie der amerikanische Mittelstand, ist das Häuschen zu klein. Erst recht dann für zu erwartende zehn Milliarden. Das heißt also, dass wir unentrinnbar auf eine Katastrophe zulaufen.

MORGEN: Haben Sie den Eindruck, dass nach dem Fall der Mauer und der darauf folgenden Euphorie, diese ganze Problematik der Ökologie, der Umweltzerstörung in den Hintergrund gedrängt wurde?

BAHRO: Nein, das ist nicht so. Da überschätzt man die Medienwirklichkeit, die zwar leider auch ein Teil der Wirklichkeit ist, aber doch eine abgeleitete. Es ist erstaunlich: Infas hat eine Umfrage über Prioritäten veranstaltet. Da war erst im Negativen das Schlimmste an dem vorigen Regime, dass die Umweltkrise so weggelogen oder verborgen wurde. Das wichtigste jetzt war wieder das Thema Umwelt, bei denselben Menschen, die sicher auch wissen, dass sie bei diesen Problemen zuerst ihr Portemonnaie befragen. Allerdings denke ich, die beiden Deutschländer, auch die Opposition, waren noch nicht dran an dem Thema, das schien nur so. Die Umweltkrise ist zwar psychologisch von vielen Leuten vereinzelt und manchmal auch für einen Abend lang unterm Kirchendach schon als ökologische Krise oder, noch gründlicher, als Umweltkrise des Menschen verstanden worden. Aber was an umweltschützerischer Praxis läuft, ist ein ungeheurer Selbstbetrug, gerade auch der Aktivisten, weil es an die Dimension des Vorgangs wirklich nicht rührt.

MORGEN: Sie meinen, weil


"Selbst Tschernobyl hat uns noch nicht auf den Gedanken gebracht, dass man Atomkraftwerke abschalten müsste. Stattdessen verkaufen wir Sicherheitstechnik an die Russen."


man einfach zu wenig im Grundsätzlichen tut, und nur Erscheinungen bekämpft statt Ursachen?

BAHRO: Wenn etwas, was vor dreißig Jahren im allgemeinen Bewusstsein ein Teich war, jetzt schätzenswertes Ökotop ist, dann ist schon alles verloren. Und das ist den Leuten nicht klar, wenn sie plötzlich umweltschützerisch tätig werden. Der ökologischen Krise ernsthaft begegnen, heißt, das Industriesystem in seiner Ausdehnung, was den Massenfaktor betrifft, in Deutschland mindestens von 100 auf zehn zurückzunehmen. Es geht nicht darum, durch das Abschalten der Geschirrspülmaschine 1 Prozent Energie im Haushalt einzusparen. Das ist ein Ausdruck dafür, dass angekommen ist: Wir müssen halblang machen. Soweit gut. Aber die Dimension wird nicht berührt. Wenn die Energiepolitiker dann darüber reden, dass wir mit Solarenergie denselben Energiebedarf befriedigen müssen, den wir jetzt mit Braunkohle und Atomkraftwerken befriedigen, dann haben die nichts kapiert, nicht begriffen, dass das Ausmaß an Energieumsatz die Hauptquelle für Vergiftung von Erde, Wasser, Luft ist.

Man redet von Sanierung der Chemieproduktion, aber wenn Paracelsus recht hat, dass die Dosis das Gift macht, dann sind hunderttausend Tonnen von irgendwelchem Zeug, auch wenn die Produktion saniert ist, Gift für die Felder, über die es gestreut wird, egal wo. Das ist es, was wir mit dem Industriesystem der Biosphäre antun und natürlich uns selbst - eine zu schwere Grundlast. Da es undenkbar ist, dass die aus unserer Perspektive Unterentwickelten gebremst werden, geht es darum, dass wir unser Modell wegnehmen, dass wir den Motor ausschalten, während wir gerade dabei sind, in das anständige Auto einzusteigen.

MORGEN: Das ist doch immer eine Frage der Bescheidenheit?

BAHRO: Ich denke, dass moralische Kategorien ein wichtiger innerer Anstoß sein können, an die Sache heranzukommen. Alle schönen Tugenden können durchaus im Missverhältnis zur täglich gelebten Wirklichkeit stehen. Wir verbrauchen hundertmal so viel wie unsere Vorfahren vor 200 Jahren. Die Gesamtanlage dieses Industriesystems mit Massenverkehr rund um die Erde ist völlig unhaltbar. Das geht nicht mehr zwei Generationen gut. Die Mehrheit muss begreifen: Wir können den Weg dahin nicht fortsetzen. Wir müssen bereit sein, uns eine Autorität zu geben, und zwar diesmal weltweit, die über den Marktkräften steht. Dieses Konkurrenzprinzip Weltmarkt und Weltzerstörung ist dasselbe. Der Mechanismus der Expansion ins Unendliche funktioniert sozusagen für die menschliche Bedürfnisbefriedigung und die Reproduktion von Bedürfnissen und Produktion, das steuert er gut. Aber es gibt überhaupt kein Begrenzungsprinzip. Herr Biedenkopf nennt das mit Recht eine Begrenzungskrise. Seine Hauptfrage ist gar nicht, den Markt durchzusetzen, sondern, wie kann eine Ordnung eingesetzt werden, die die Ufer befestigt, gegen den Strom.

MORGEN: Um die Eigendynamik des Kapitals international zu kontrollieren, muss man einen gewissen Zeitraum voraussetzen. Ist es dann nicht vielleicht zu spät, oder der Gedanke überhaupt eine Utopie?

BAHRO: Nein, es ist keine Utopie. Ich meine allerdings, die Hoffnung ist wirklich über die Katastrophe vermittelbar. Anders werden wir das nicht lernen. Hoffentlich verfolgt die Katastrophe selbst eine Salami-Taktik. Das ist eigentlich unsere Chance. Selbst Tschernobyl hat uns in Westdeutschland noch nicht auf den Gedanken gebracht, dass man Atomkraftwerke abschalten müsste, und die sichersten zuerst. Stattdessen verkauft man Sicherheitstechnik an die Russen.

Das Geheimnis der ganzen Katastrophe ist doch nicht der Misserfolg, sondern der Erfolg von Wissenschaft und Technik. Die Atomkraftwerke, die in sich selbst natürlich hochproblematisch sind, verordnen wir unseren Nachkommen. Das Problem ist der Genius des Menschen und nicht seine Kriminalität. Die vorprogrammierte Selbstzerstörung hat nichts mit irgendwelchen eliminierbaren Bosheiten zu tun.

Der Mercedes-Stern ist das Geheimnis des Untergangs.

MORGEN: Also Selbstzerstörung vorprogrammiert?

BAHRO: Ich meine, solange der Mensch sich nicht erkennt, kann er die Dynamik nicht kontrollieren, die da treibt. Ohne Rücksicht auf Verluste haben Physiker die Bombe entwickelt. Im Augenblick sind die Genetiker beim selben Geschäft. Das wird noch schlimmer ausgehen, unvermeidlicherweise. Und nicht aus naturwissenschaftlichen Gründen, sondern weil die Aneignung beliebiger Grundlagenforschung über die Gesellschaft geht.

Der Punkt ist, dass die Masse der Menschheit das Prinzip der Selbstbegrenzung bisher nicht an die Spitze stellt. Es sind immer nur einzelne gewesen, Vorläufer, wie Buddha, wie Mohammed oder Christus. Die wirkliche Lösung wäre die Erleuchtung, dass das Universum schon in Ordnung ist und dass wir aufhören sollten, es verbessern zu wollen. Die Botschaft der Meister: Nicht stören. Das ist das Schild, dass an der ganzen Welt angebracht werden muss. Wir brauchen Krücken, deshalb gibt es Institutionen, Gesetze, Staaten und so fort. Solange wir diese Erleuchtung, von der ich sprach, nicht erlangt haben, muss Europa sich selbst korrigieren. Wir haben zum Ausgang des Mittelalters die Institutionen abgeschafft, die uns bremsen konnten. Jeder wird heute nach seiner Fasson selig. Obwohl das Universum in Wirklichkeit wohl nur eine Fasson hat, in die wir uns wirklich fügen müssen.

Die ökologische Krise ist einfach der Hinweis darauf, dass wir ohne eine politische Instanz, die stärker ist als die ökonomische, nicht auskommen. Und wer jemals in diesen Zusammenhang hineingeschaut hat, der weiß auch, dass so eine politische Instanz gar nicht funktionieren kann ohne eine geistliche Instanz.

MORGEN: Wie soll man diese geistliche Instanz begreifen?

BAHRO: Der Mensch ist Arbeiter, und er ist auch kaufmännisch, und der Mensch ist notwendig politisch. Aber eine spirituelle Instanz existiert anthropologisch auch. Der Mensch kann den Meister rufen. Es ist wie im Gedicht vom "Zauberlehrling". Und wenn ich Lehrling bin, dann muss ich den Meister rufen, dass heißt eine andere Person, eine äußere Instanz; wenn ich aber reif geworden bin, dann könnte ich den inneren Meister rufen. Das Problem ist einfach: Wenn wenig meisterliche Substanz da ist, dann gibt es viel Kirche. Das, was Hölderlin unsichtbare Kirche genannt hatte: Die ist weder aus Stein aus Stein noch ist da eine Hierarchie.

MORGEN: Mit anderen Worten: Kirche statt Marxismus, der eigentlich politisch tot ist, zumindest diskreditiert durch den Stalinismus. Ist Marx tot? Sollte man ihn überhaupt noch lehren?

BAHRO: Ja, sollte man Platon nicht mehr lehren, weil er auch tot ist?

MORGEN: Physisch, ja. Ich meine jetzt die geistige Dimension.

BAHRO: Ich denke einfach, auf dieser Ebene sind die Beweise nicht auffindbar. Es ist eigentlich ein ganz anderes Problem, das Problem der beschränkten und dann von einem bestimmten Moment an falschen Inkarnation eines Prinzips. Dieser notwendige Gedanke von Marx, dass die Gesellschaft ihre Ökonomie haben muss, statt von ihrer Ökonomie besessen zu sein, der hat in der Wirklichkeit erstmals eine halb asiatische Inkarnation gefunden, weil sich 1917 Völker erhoben haben, bei denen die asiatische Despotie niemals völlig gebrochen war, also dieses Herrschaftsprinzip des Pharao und der Verfügung, die nicht von Privateigentum ausging, sondern von einem Gesamteigentum über der Gesellschaft. Das geschah zuerst in Russland und China. Es gab Schranken, die offenbar unübersteigbar waren. Das habe ich auch erst lernen müssen. Es war keine bessere DDR drin. Das heißt, diese Gesellschaft musste weg, die Art, wie die Kanäle angelegt waren, sorgte dafür, dass das nicht richtig funktionieren konnte.

MORGEN: Weil das Prinzip falsch war?

BAHRO: Nein, nicht das Prinzip, sondern weil es unzulänglich inkarniert war. Ich habe ja in der "Alternative" eine Sentenz von Teilhard de Chardin über den Kommunismus zitiert. Er beklagte, das sei der Kristall statt der Zelle, der Termitenbau statt der Brüderlichkeit. Wir haben die Wahrheit gesucht und verfehlt, befangen in einer insgesamt unzulänglichen Gestalt des Prinzips. Jetzt sind wir zurückgefallen in eine Struktur, die Wahrheitssuche gar nicht erst betreibt. Die Marktkräfte suchen keine Wahrheit. Da ist nicht die Frage aufgeworfen "leben wir, wie wir müssen?", die Tolstoi beispielsweise gestellt hat, sondern da herrscht das Diktat der Süchte.

MORGEN: Meinen Sie, dass der Marxismus noch eine Emanzipationsfunktion hat?

BAHRO: Das, was an einer Theorie oder an einer Bewegung wahr ist, um das muss man sich nicht sorgen. Es geht sowieso nicht verloren. Es gibt gegenwärtig gar keinen Antimarxismus, der sich nicht von Marx genährt hätte.

Ich glaube, dass keinerlei "Ismus" es verdient, als Heilslehre verbreitet zu werden. Lehrstühle für Marxismus sind Quatsch! Drüben gibt's so was, aber in dieser pluralistischen Anordnung, die in sich selbst eigentlich ein Hohn auf die Wahrheit ist. Im wesentlichen heißt die Aussage: Es gibt keine Wahrheit. Solange der Wille zur Macht mächtiger ist, als der Wille zur Wahrheit, passiert es natürlich, dass er terroristisch wird. Bloß ist dieser Mechanismus in uns kein Hinweis darauf, dass Hegel Unrecht hatte: Die Zahl der Irrtümer ist grenzenlos, die Wahrheit ist einzig.

MORGEN: Was bedeutet Ihnen Politik?

BAHRO: Ich habe gefunden, dass das, was wir normalerweise unter Politik verstehen, bloß Politikasterei und Polikantentum ist und ein großes Ablenkungsmanöver vom Wesentlichen.

MORGEN: Sehen Sie sich als eine Art eremitischen Philosophen, losgelöst von der Politik, oder machen Sie sich auch Gedanken darüber, was überhaupt wählbar ist, am 2. Dezember zum Beispiel?

BAHRO: Nein, daran sollte man nicht länger als eine Minute am Tag denken. Es ist so unwesentlich und macht sich alles selbst. Ich glaube, politischer zu sein, indem ich mich um die Parteipolitik weniger kümmere. Es geht darum, Politik völlig neu aufzubauen, von Grund auf. Dennoch werde ich mir die Mühe machen, ins Wahllokal zu gehen, und in diesem grünlichen Feld da meine Stimme abgeben.


"Ich habe nach meiner Rückkehr im November 1989 lernen müssen: Es war einfach keine bessere DDR drin. Das heißt, diese Gesellschaft musste weg. Sie konnte nicht richtig funktionieren."


Das ist immer ein Hinweis darauf, dass das wichtigste Thema fünf Prozent bekommt.

MORGEN: Sie haben bisher noch kein Institut, sind sie ungeduldig?

BAHRO: Ich bin geduldig, ich meine, es ist schon ein Punkt, wo noch etwas passieren kann. Die Uni ist ein neutraler Ort, sie ist im gutem Sinne wirklich überpolitisch. Ich arbeite dafür, dass Politik neu begründet werden kann. Also, dass ein echter Konsens dafür zustande kommt. Wir brauchen wieder eine politische Autorität, ein Oberhaus.

Da muss etwas gefunden werden, weder Kirche noch Ersatzkirche, wie es die Partei war, sondern ein Netz der geistigen Verständigung über das politisch Notwendige. Und im Politischen kann man sich dann darüber einigen, wie man mit der Wirtschaft umgeht, wie das Problem der sozialen Gerechtigkeit gehandhabt werden soll. Das ist Politik: Auf der Erde eine Ordnung suchen, die mit dem Kosmos harmoniert. Der Kosmos ist unser Ordnungsname für das Universum.

MORGEN: Das sind Gedanken, die Sie an der Uni vermitteln wollen?

BAHRO: Die Themen müssen weiter gelehrt werden, nicht in der Beschränkung auf einen Meister. Jeder Meister ist auch beschränkt. Und die Uni ist einfach ein Ort, wo man das noch machen kann, obwohl sie im Ganzen natürlich nicht richtiger funktioniert als die ganze Gesellschaft, denn sie ist Teil davon, Teil der Todesspirale. Die Wissenschaft ist neben dem Kapital das Grundgeheimnis der Katastrophe.

Sabine von Münster
Jan von Flocken

RUDOLF BAHRO, geboren 1935, studierte 1954 - 59 Philosophie an der Berliner Humboldt-Universität. Danach arbeitete er als Journalist und befasste sich seit 1967 in einem Ingenieurbüro mit Fragen von Rationalisierung und Wirtschaftsorganisation. Seine Kritik am Parteiapparat und Wirtschaftssystem der DDR fasste er 1977 in dem Buch "Die Alternative. Zur Kritik des real existierenden Sozialismus" zusammen. Nach Erscheinen des Buches in der BRD wurde Bahro im August 1977 verhaftet und zu acht Jahren Gefängnis verurteilt. Im Oktober 1979 wurde er in die BRD entlassen und schloss sich den Grünen an, deren Bundesvorstand er bis Ende 1984 angehörte. In den 80er Jahren wandte sich Bahro meditativen Gedanken zu. 1986 erschien sein Buch "Logik der Rettung. Ein Versuch über die Grundlagen ökologischer Politik". Im November 1989 kehrte Bahro nach Ostberlin zurück. Er erhielt an der Humboldt-Universität eine Professur für soziale Ökologie.

Der Morgen, Nr. 269, Sonnabend/Sonntag, 17./18. November 1990

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