Dann eben das kleinere Übel . . .
Wolf Biermann zur DDR nach dem Herbst '89
Die ANDERE: Im letzten November warst du nach 14 Jahren wieder hier und konntest Konzerte geben. Was hat sich für dich geändert seitdem, wenn du an die DDR denkst?
Biermann: Damals überlegte ich, wie ich es machen muss, dass ich schnell wieder in der DDR lebe, meine Staatsbürgerschaft zurückkriege, meine Wohnung, in der sich inzwischen die Stasi breitgemacht hat, und dass ich zu meinen Leuten zurückkomme. Dass ich dorthin gehe, wohin ich gehöre.
Die ANDERE: Die Leute sind noch da.
Biermann: Ja, aber die kommen mir ja jetzt sozusagen entgegen.
Die ANDERE: Vielleicht die nicht.
Biermann: Nein, aber die Mehrheit, und die entscheidet. Es lohnt sich nicht mehr, wenn das sowieso Westen wird. Ich meine, wenn man glücklich ist, geht man auch gerne in irgend einen Betrieb. Aber das sehe ich nicht.
Die ANDERE: Nicht mehr?
Biermann: Nicht mehr, nein.
Die ANDERE: Das geht uns ja ähnlich. Wir müssen nun aber versuchen, da wir ja nicht in Hamburg, sondern in Marzahn oder Klein Machnow leben, irgendwie aus dem, was ist, was zu machen - das Beste möglichst.
Biermann: Na, dann macht mal!
Die ANDERE: Nicht sehr optimistisch.
Biermann: Ich werde mich daran so gut ich kann beteiligen, an dem, was gemacht werden könnte. Ich hab Konzerte gemacht, hab auch auf der großen Versammlung in Erfurt auf dem Domplatz gesprochen, hab mich ein bisschen mit den Leuten angelegt dort, hab ihnen ein paar Sachen gesagt, die sie nicht gerne hören wollten. Aber das bin ich ja gewohnt, darin hab ich Übung.
Die ANDERE: Glaubst du auch, dass offenbar nicht zu vermeiden ist, dass die Leute erstmal die Erfahrung machen müssen, in einer westlichen Wohlstandsgesellschaft zu neben, bevor sie eine Alternative für die Zukunft wirklich ernsthaft überlegen können?
Biermann: Es sieht so aus. Die meisten lebten ja so hin, arrangierten sich, hielten die Schnauze. Und jetzt reden sie mit Schaum vorm Mund - das geht eben nicht anders. Die müssen das wahrscheinlich so haben. Das ist der wirkliche Preis, den wir alle bezahlen müssen für den Stalinismus. Glaube ja nicht, dass die Verbrechen der Vergangenheit damit abbezahlt sind, dass man diese Schweinehunde von der Macht verjagt. Die Rechnung ist noch längst nicht beglichen Und zu den Kosten, die jetzt entstanden sind, durch diesen Bankrott, gehört, dass die Menschen überhaupt keine Lust mehr haben, diese Tierexperimente, genannt Sozialismus, an lebendigen Menschen weiter mitzumachen. Aber manchmal fällt es mir auch sehr leicht, daran zu denken, dass man vielleicht doch noch mal eine andere Gesellschaft als die Kopie der bürgerlichen versuchen sollte. Weil wir wissen, dass der Westen, in dem man so viel besser leben kann als im Osten, trotzdem nicht die Gesellschaft ist, die geeignet ist, das Überleben der menschlichen Rasse auf der Erde zu er zwingen. Natürlich hatten wir die romantische Hoffnung, dass vielleicht die DDR so einen besseren Weg versuchen könnte. Fast im christlichen Sinne: Die Letzten werden die Ersten sein. Was ja kein dummes Wort ist. - Ich habe eine Frau kennengelernt, die ist Ölerin. Ja, so nennt sich der Beruf. Die ist Ölerin in Zwickau, in dem Werk, wo diese stinkenden Pappautos hergestellt werden. Die hat Plattfüße, weil sie den ganzen Tag mit zwei Ölkannen durch das Werk rennt und die großen Maschinen ölt, damit sie nicht heißlaufen. Dieses Öl wiegt, sagen wir mal, einen halben Zentner. Das ist schlecht für die Füße. Dann hat sie ein krankes Kind, das immer Hustenanfälle kriegt, und wohnt in einem Zimmer mit fließend Wasser die Wände runter. Ihr Mann, der im Dreischichtsystem arbeitete, hat sie verlassen, weil er dieses ewig hustende Kind in diesem nassen Zimmer und diese ewig kaputte Frau nicht mehr ertragen konnte. Und wenn ich dieser Frau gegenübersitze, dann habe ich nicht den Mut der einen Vortrag darüber zu halten, nun noch einmal einen neuen Versuch zu machen. Dann schäme ich mich. Und wenn diese Frau jetzt sagt: "Mein lieber Freund, ich verstehe schon selbst, was du meinst, aber ich bin müde, ich bin erschöpft, und mein Leben ist schon halb rum, und ich will es noch ein bisschen leichter haben. Ich traue euch nicht zu, dass ihr das schafft." Dann darf ich der nicht sagen doch, wir schaffen das. Das wäre eine, Lüge, aus meinem Mund sowieso, weil ich inzwischen im Westen lebe.
Die ANDERE: Das ist die Geschichte vom kleineren Übel - wieder mal . . .
Biermann: Wenn es denn wirklich das kleinere Übel ist, dann ist es gut. Schade ist es dann, aber der Schaden ist angerichtet nicht von dieser Ölerin, von mir auch nicht, sondern von Egon Krenz der jetzt für anderthalb Millionen Mark der Bild-Zeitung jeden Tag Dünnschiss liefert, den die den Lesern aufs Brot schmiert.
Interview:
Reinhard Weißhuhn
die andere zeitung Berlin Nr. 8, Do. 15.03.1990