Kein Volk ist schlecht, auch nicht das deutsche

Mit Stefan Heym sprach Junge-Welt-Mitarbeiter Frank Schumann

Als wir uns seinerzeit den Titel für unsere Gesprächsreihe ausdachten, reichte unsere Phantasie nickt soweit, dass der beschriebene Zustand noch in diesem Jahr Realität würde. Und wir hofften mehr, als wir zu denken wagten - es ist ja immer so ein irrationales Moment der Hoffnung dabei: So schlimm wird's schon nicht werden -, dass in unsere Gesellschaft noch nicht so vehement die andere, die bürgerliche einbrechen würde. Sie krausen die Stirn - Sie sehen es offenbar anders. Kein Einbruch also?

Ja. Ich finde, dass die Menschen hier in der übergroßen Mehrheit die Entwicklung gewollt haben. Sie haben es gewollt, weil das, was im Schatten der Mauer entstanden war, solche Schwächen hatte, dass sich da einfach nicht mehr leben ließ. Allein die Tatsache, dass man hinter der Mauer wie in einem Gefängnis saß, bewies doch, dass diese Ordnung nicht einmal stark genug war, die eigenen Menschen zu ertragen und zu halten. Dass man diese Ordnung loswerden wollte, ist also verständlich. Klar war auch, dass man andere Verhältnisse schaffen wollte. Die Frage war nur: Was für Verhältnisse? Und: Was für ein Deutschland sollte aus den Bemühungen um eine Vereinigung herauswachsen? Ich selber bin einer derjenigen gewesen, die immer gesagt haben, dass das deutsche Volk eines sei - das kann man gedruckt nachlesen. Aber heute ist es so, dass ich auf der Straße, im Laden, im Restaurant ständig zu hören bekomme: So haben wir uns das nicht gedacht.

Oder: Das habe ich nicht gewollt. Da widerspiegeln sich nicht nur die Ängste, die sie verspüren, sondern auch Erschrecken vor der Art, wie mit ihnen und mit uns verfahren wird. Auf eine unangenehme, blöde Diktatur - die Diktatur gewisser Funktionäre - ist ein System gefolgt, das zwar nicht den Namen Diktatur trägt, aber doch das Leben der Menschen bestimmt, ohne dass diese viel daran ändern können. Sie können allerdings - wenn sie weit genug denken - sich bei Wahlen dagegen stellen, etwas, was sie in der Zeit der DDR nicht tun konnten. Das ist neu, das ist gut, das sollte man erholten. Allerdings muss man darauf achten, dass in dem Getriebe der Parteien nicht allzu viel Manipulation stattfindet, dass man diesen manipulierenden Politikern und Medien und Propagandisten die Fälschungen nicht abnimmt, die sie dauernd loslassen. Diese sind genauso schlimm - nur nicht so auffällig und nicht so plump wie die des alten Regimes.

Sie sind seinerzeit als einer der Initiatoren des Aufrufs "Für unser Land" hervorgetreten, mit welchem die Eigenständigkeit der DDR gefordert wurde. Die Unternehmung scheiterte wie andere Hoffnungen und Träume auch. Der Aufruf fand nicht die Aufnahme bei den Massen, sie entschieden sich anders . . .

Ja, das ist völlig richtig. Es stellte sich bald heraus, dass der Wunsch der Menschen direkter war. Ich hatte geglaubt, die Menschen würden sich die Zeit nehmen, ihr Leben innerhalb des Landes DDR selber zu ändern, und dass sie - wenn die Einheit kommen würde - etwas Solides, Anständiges, Demokratisches einbringen würden in das dann gemeinsame Deutschland. Das war meine Hoffnung. Die Leute aber, nachdem sie die Ausflüge in den Westen unternommen und gesehen hatten, was für Güter und Genüsse dort auf sie warteten, sagten: Das wollen wir lieber gleich! Alles verständlich. Trotzdem hätte dieser Aufruf, weil er Bedürfnisse und Gefühle der Menschen ausdrückte - wenn auch nicht aller Menschen -, ein viel größeres Echo gehabt, wenn er besser formuliert worden wäre. Vor allem hätte er mehr Erfolg gehabt, wenn der Herr Krenz und der Herr Schabowski ihre Finger aus der Sache herausgehalten hätten. Die beiden Herren hätten einem biblischen Text den Todesstoß versetzen können.

Die Unterzeichnung des Aufrufs durch die beiden war also Ihrer Meinung nach ein ebenso verheerender Akt wie die Öffnung der Mauer?

Ich weiß nicht genau, wie die überraschende Öffnung zustande kam und welche Absicht dahinter steckte. Es gibt eine Theorie, der zufolge die Mauer geöffnet wurde, um die Menschen in die Geschäfte drüben abzulenken, um ihnen jeglichen Gedanken an eine mögliche Demokratie in der DDR aus dem Kopf zu schlagen. Dadurch sollte das Regime Krenz/Schabowski gerettet werden. Aber ob diese These zutrifft, kann ich nicht sagen. Möglich ist so ein Gedanke aber schon. Das einzige Moment, das dagegen spricht, ist die Tatsache, dass dieser Gedanke so gescheit war, dass er kaum aus dem Kopf von Krenz oder von Schabowski gekommen sein könnte.

Ich folge Ihnen insoweit, als auch ich davon überzeugt bin, dass die Maueröffnung ein Versuch war, den eigenen Kopf zu retten. Um den Thron zu halten, haben sie das ganze Land verspielt.

So ist es.

Nur: In der Endkonsequenz haben sie Recht behalten die meisten Menschen befassen sich heute mehr mit den materiellen Dingen des Seins und weniger mit Politik, Demokratie und Gerechtigkeit.

War auch nicht anders zu erwarten. Ich nehme das jedoch niemandem übel, der jetzt sagt: Ich möchte auch an den guten Dingen des Lebens teilhaben. Wenn er allerdings mit diesem Vorsatz ganz einfach nur drauflos marschiert, kann es passieren, dass er alles verliert.

Wohlstand hat Grenzen und seinen Preis . . .

Schriftsteller gelten als das moralische Gewissen einer Gesellschaft . . .

Wissen Sie, ich kenne meine Kollegen ganz gut. Ich sehe sie kaum als moralisches Gewissen.

Kollegenschelte?

Nein. Es gibt einige Schriftsteller, die haben Wichtiges zu sagen. Die schätze ich. Aber auch mich betrachte ich nicht als moralisches Gewissen. Das ist ein viel zu großer Anspruch.

Gut, ich halte Sie dennoch für einen Moralisten. Und folglich sehen Sie, dass die Fleischtöpfe des Westens - vor denen nun auch zwei Drittel der DDR-Bevölkerung sitzen sollen - nicht nur von Köchen der Bundesrepublik gefüllt werden. Die Dritte Welt tut auch etliches hinein. Dass ein relativ kleiner Teil der Menschheit mit auf Kosten eines größeren Teiles lebt, und dass dies unmoralisch ist - ein solcher Appell kommt heute kaum an. Man marschiert einfach drauf los.

Sehen Sie, es wird eine Zeit kommen, die ich sehr fürchte. Das ist die Zeit, wenn sich die Menschen der südlichen Hälfte des Globus nach Europa aufmachen werden, um uns zu besuchen und von uns zu fordern: Gebt uns Brot! Das passiert ja jetzt schon. Sie kommen in Scharen aus Osteuropa. Sie sind zwar noch nicht so stark und so zahlreich, dass sich die Polizei vor ihnen zurückziehen müsste. Aber es kann durchaus kommen, dass Unzählige hier einbrechen. Das hat dann nichts mehr mit Moral zu tun. Die Aufgabe heißt darum: weltweiter Kampf gegen den Hunger, Kampf um das Klima, Kampf um den Boden, Kampf um das Wasser . . . Und der muss gemeinsam geführt werden. Auch mit Kapitalisten. Die müssen besonders in die Pflicht genommen werden. Anderenfalls gibt es sonst nirgendwo ein Leben, das noch lebenswert wäre.

Wenn wir schon von der Moral der Schriftsteller reden, dann heißt das: Sie dürfen nicht an diesen Hauptprobleme der Menschheit vorbeigehen. Und was jetzt von bundesdeutscher Seite an Politik und offizieller Ideologie kommt, ist so armselig, so gefährlich auch, dass man als Schriftsteller in der Tat Alarm schlagen muss.

Würden Sie die Auffassung Günter Kunerts teilen, die er vor Jahren äußerte: Die Menschheit befindet sich auf der schiefen Ebene, sie kann bestenfalls noch darüber befinden, mit welcher Geschwindigkeit sie in den Abgrund gleitet. Verhindern kann sie es nicht mehr.

Ich sehe die Gefahr. Aber ich bin der Meinung, wenn man zusammenhält, kann man noch einiges retten. Es wird nicht leicht sein. Wir können nicht warten, bis die Gletscher schmelzen, das Meer sich verändert, ein Teil des Landes untergeht, dann werden die dummen Menschen aussterben wie die dummen Dinosaurier. Das kann, das muss aber nicht kommen. Nur ist es so, wenn ich mir die Politik ansehe - besonders bei uns -, da könnte man schon verzweifeln. Insofern bin ich einverstanden mit Günter Kunert.

Sie bezeichneten Deutschland unlängst in einem JW-lnteriew als Tümpel mit quakenden Fröschen. Gibt es für Stefan Heym auch eine grüne Wiese, auf der er sich logen und zufrieden ist?

Ach Gott, Deutschland ist ein gutes Land. Das Volk ist doch nicht schlecht, kein Volk ist schlecht. Aber die Deutschen haben es an sich, sich selber wichtiger zu nehmen, als sie eigentlich das Recht dazu haben. Ich höre die nationalistischen Rufe und das Getöse, und ich erkenne die Deutschen aus der Nazizeit und aus der Zeit danach wieder, ich habe also wenig Illusionen. Aber trotzdem: Es gibt auch andere hier. Und vielleicht werden diese Leute aus der DDR und der Bundesrepublik zusammen doch eine Kraft entwickeln, die eine Zukunft sichern kann.

Junge Welt, Mi. 03.10.1990

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