Erklärung zur Deutschen Frage
Folgende "Erklärung zur Deutschen Frage", die von Siegmund Rotstein, Präsident des Verbandes der Jüdischen Gemeinden in der DDR, Dr. Peter Kirchner, Vizepräsident des Verbandes der Jüdischen Gemeinden in der DDR, Dr. Peter Fischer, Sekretär des Verbands der Jüdischen Gemeinden in der DDR sowie von Prof. Dr. Heinrich Scheel von der Akademie der Wissenschaften der DDR, Prof. Dr. Rosemarie Will von der Humboldt-Universität Berlin, Dr. Heinrich Toeplitz und Prof. Dr. Axel Azzola von der Universität Darmstadt unterzeichnet ist, wurde am Montag dem ADN übergeben:
Viele Menschen bewegt die Frage nach der Zukunft der beiden deutschen Staaten. Hierzu erklären die Unterzeichner:
"1. Die Existenz zweier deutscher Staaten ist das Ergebnis eines vom Deutschen Reich begonnenen und verlorenen Krieges, der fast alle Staaten und Völker Europas den imperialen und barbarischen Interessen des deutschen Faschismus unterjochen sollte. Mit der bedingungslosen Kapitulation hörte jenes Reich zu existieren auf, das Europa in Furcht und Schrecken versetzt hatte. Über das Schicksal Restdeutschlands und des deutschen Volkes befanden die Sieger nach Maßgabe ihrer Interessen. Dabei war die staatliche Teilung Deutschlands die Folge des Auseinanderbrechens der Anti-Hitler-Koalition und des gleichzeitig beginnenden Kalten Krieges der die Nachkriegsordnung Europas und zugleich die konkrete Gestalt beider deutscher Staaten prägte.
Deshalb ist die 'Deutsche Frage' und damit die Frage der nationalen und staatlichen Einheit Deutschlands heute, das heißt, mit dem Ende dieser Nachkriegsordnung genau so 'offen', wie die Zukunft Europas selbst als 'offen' anzusehen ist.
2. Allerdings gilt eines unverändert fort: Spiegelt die staatliche Spaltung Deutschlands die Interessen der Siegermächte und die Interessen der vom Deutschen Reich unterdrückten, verfolgten und zum Teil ausgerotteten Völker wider, dann können die Deutschen über ihre eigene Zukunft nicht frei entscheiden. Eine Veränderung des status quo ist vielmehr einer friedensvertraglichen Regelung und damit der Zustimmung der Siegermächte und der am europäischen Entspannungsprozess beteiligten Mächte vorbehalten. In Ansehung der Schoah des Judenmordes an den europäischen Juden, kommt der Mitwirkung des Jüdischen Volkes an dieser friedensvertraglichen Regelung eine hervorragende Bedeutung zu.
3. Diese friedensvertragliche Regelung vorzubereiten, ist schon heute die Aufgabe beider deutscher Staaten, die unter Wahrung ihrer Souveränität, die hierzu notwendigen Institutionen bilden müssen. Gegenstand einer friedensvertraglichen Regelung ist, über die Frage der völkerrechtlichen Regelung der Folgen des Untergangs des Deutschen Reiches hinaus, die auch völkerrechtlich endgültige Feststellung der Westgrenze Polens und die Schaffung eines neuen und gesamteuropäischen Sicherheitssystems. Im Rahmen dieser gesamteuropäischen Friedensordnung wird das deutsche Volk die Form seiner nationalen und staatlichen Existenz selbst bestimmen.
4. Der gesamteuropäische Friedensprozess hängt davon ab, dass die Entscheidungsfreiheit des ganzen Volkes der DDR erhalten wird. Die Entscheidungsfreiheit des gesamten Volkes ist heute bedroht durch die Tatsache, dass die Existenzfähigkeit der durch den Entschluss dringend benötigter Arbeitskräfte, das Land zu verlassen, in Frage gestellt werden kann. Dabei kommt der Haltung der Bundesrepublik Deutschland eine ausschlaggebende Bedeutung zu, da das Festhalten an der Doktrin der einheitlichen Staatsbürgerschaft den Entschluss überzusiedeln, in vielen Fällen maßgeblich beeinflusst. Deshalb werden die verantwortlichen Organe, aber auch diejenigen Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens der Bundesrepublik Deutschland, die bereit sind, im Interesse des gesamteuropäischen Friedensprozesses deutschnationalen Wahnvorstellungen entgegenzutreten, aufgefordert, die an Artikel 116 des Grundgesetzes für Bürger der DDR geknüpften Rechte bis zu einer friedensvertraglichen Regelung auszusetzen."
Die Unterzeichner bitten, dieser Erklärung durch Ihre Unterschrift beizutreten.
Kontaktadressen:
Verband der Jüdischen Gemeinden in der DDR
Bautzner Straße 20
Dresden 8060
Tel.: Dresden, (...)
Stiftung "Neue Synagoge Berlin - Centrum Judaicum"
Oranienburger Str. 28
Berlin, 1040
Tel.: Berlin, (...)
Jüdische Gemeinde Berlin
Oranienburger Str. 28
Berlin 1040
Tel.: Berlin, (...).
aus: Sächsische Zeitung, Nr. 286, 05.12.1989, 44. Jahrgang, Organ der Bezirksleitung Dresden der SED, Herausgeber: Bezirksleitung Dresden der SED