Mit HEINER GIERSCH vom Trägerkreis des Tschernobyl-Tages sprach Jörg Staude
Atomkraft ist kein Tabu mehr
Am 26. April 1986 flog der Block 4 des Kernkraftwerkes Tschernobyl unweit von Kiew in die Luft. Aus diesem Anlass finden vom Donnerstag bis Sonntag DDR-weit Aktionen statt. Zum ersten mal?
Nein. Bereits im Vorjahr gab es vereinzelt Aktionen, vor allem unter dem Schutz der Kirche. Kernkraft war ja ein Tabuthema. In diesem Jahr geht es uns darum, Betroffenheit über das in Tschernobyl Geschehene auszulösen. Das Reaktorunglück und seine Folgen scheinen für viele eine ferne, vergessene Sache zu sein. Ein Drittel des belorussischen Bodens ist aber heute noch radioaktiv verseucht, in einigen Gebieten treten Strahlendosen auf, die mehr als fünfzigfach über den zulässigen Werten liegen. Trotzdem wird dort versucht, die Produktion von Fleisch und Milch auch noch zu erhöhen. Darüber wird wenig bekanntgegeben, und mit Glasnost hat es nichts zu tun.
Tschernobyl ist heute schon zum Symbol für das mögliche Versagen von Mensch und Technik geworden. Nicht wenige beziehen das auch auf die Kernkraftwerke in der DDR.
Mit unseren Aktionen wollen wir in erster Linie durchsetzen, dass das KKW Stendal nicht zu Ende gebaut wird. Hier werden seit 16 Jahren täglich 1,25 Millionen Mark an Investitionen in den Sand gesetzt. Es gibt Ideen, wie das bislang Errichtete genutzt werden kann, so für eine Fabrik für Wärmedämmmittel. Mit dem Atomthema befasst sich am Samstag auch eine Tagung der Evangelischen Akademie im Stendaler Dom. Für den Sonntag Nachmittag ist dann im Zentrum der Stadt eine Kundgebung geplant.
Wer gehört neben der Kirche zu den Initiatoren des Tschernobyl-Tages?
Politische Bewegungen wie das Neue Forum, die Grüne Liga und Grüne Partei bis hin zu überregionalen alternativen Gruppen. Die Genannten arbeiten weitgehend eigenständig und beschäftigen sich nicht nur mit Kernenergie allein. Dabei wird eine enge Zusammenarbeit mit bundesdeutschen Öko-Gruppen angestrebt. Wir finden, dass im Zug der deutsch-deutschen Einheit die Umweltproblematik jetzt so langsam das Schlusslicht bildet. Sie ist aber das Wichtigste, denn die Umweltschäden erreichen ein Ausmaß, das schon nicht mehr reparabel ist.
aus: Neues Deutschland, Jahrgang 45, Ausgabe 98, 27.04.1990, Sozialistische Tageszeitung. Die Redaktion wurde 1956 und 1986 mit dem Karl-Marx-Orden und 1971 mit dem Vaterländischen Verdienstorden in Gold ausgezeichnet.