Zur Lage der Kultur in der DDR sowie zu erforderlichen Maßnahmen

1. Zur Lage

In wenigen Tagen finden in der DDR demokratische Wahlen statt. Es geht um Entscheidungen von großer Tragweite für die Menschen hierzulande und im anderen deutschen Staat, um europäische Zukunft in weltweitem Zusammenhang.

In den sich verändernden politischen und ökonomischen Strukturen in Deutschland dürfen unbestreitbare Werte unserer Gesellschaft nicht verloren gehen, die von Generationen geschaffen worden sind. Die Pflege von Kultur und Kunst gehören dazu. In dieser Überzeugung sind Künstler und Kulturschaffende im Bund mit Hunderttausenden auf die Straße gegangen, um eine neue solidarische, demokratische Gesellschaft auf den Weg zu bringen.

In den Programmen der Parteien fehlen bis zur Stunde weitgehend schlüssige Konzeptionen zur Bewahrung von Kultur und Kunst. Wie aber kann Demokratie gedeihen, wenn sie den Zugang zu den geistigen Reichtümern nicht ebenso eröffnet wie zu materiellem Wohlstand? Wenn Theater und Puppenbühnen geschlossen und Orchester verkleinert werden, wenn Kulturhäuser und Betriebsbibliotheken verschwinden und Kinos weiter verfallen, fährt der Zug der Zeit in eine falsche Richtung. Auch Jugendklubs, Diskotheken und Laienkunst gehören zur Alltagskultur, die den Lebenswert in unserem Lande mitbestimmt.

Der Staat hat eine Obhutspflicht für Kultur und Kunst, die nicht durch Marktwirtschaft außer Kraft gesetzt werden darf. Wir dürfen nicht zulassen, dass sich die Politik aus ihrer kulturellen Verantwortung zurückzieht und rufen die Bürgerinnen und Bürger auf, die Programme von Parteien und Bürgervereinigungen auch unter diesem Gesichtspunkt zu prüfen. Fordern wir Kultur!

2. Sofortmaßnahmen

Der Runde Tisch vertritt im Sinne auszulösender Sofortmaßnahmen folgende Standpunkte:

- Es kann nicht zugelassen werden, dass sich der Staat nach 40jähriger Wahrnehmung seiner Rechte aus der Verantwortung für Kultur und Kunst verabschiedet.

- Der Staat hat die strukturellen und materiellen Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass sich das Individuum nach seinen Talenten und Bedürfnissen frei entfalten kann.

- Jeglicher Missbrauch der Kultur und Kunst ist auszuschließen.

- Das uneingeschränkte Recht aller Bürgerinnen und Bürger auf freien Zugang zu Kultur und Kunst muss gesichert sein.

- Strukturelle und finanzielle Maßnahmen, die den Kulturbereich betreffen, bedürfen der vorherigen öffentlichen Diskussion.

- Die in den Kommunen bisher für Kultur und Kunst zur Verfügung stehenden Mittel dürfen nicht umverteilt werden.

- Die betrieblichen Mittel, die auf der Grundlage bisher bestehender Regelungen für Kultur und Bildung bereitzustellen sind, dürfen nicht verringert werden.

3. Weiterreichende Maßnahmen

Kultur und Kunstentwicklung folgen einer anderen Logik als die Ökonomie. Deshalb widerspricht eine Ausrichtung der Kultur nach marktwirtschaftlichen Kriterien den Rechten der Bürgerinnen und Bürger auf freien Zugang zur Kultur beziehungsweise zur Kunstausübung.

Deshalb fordert der Runde Tisch die verfassungsmäßige Festschreibung des Bekenntnisses der DDR zum Kulturstaatsgebot.

Der Runde Tisch fordert zur Untersetzung dieses Verfassungsgrundsatzes die sofortige Erarbeitung und Verabschiedung eines Kulturpflichtgesetzes durch eine Kommission, die sich aus Vertretern der Parteien und politischen Gruppierungen des Runden Tisches und der gemeinnützigen Kultur und Kunstvereine beziehungsweise Verbände zusammensetzt.

Dieses Kulturpflichtgesetz muss nach Auffassung des Runden Tisches zu folgenden Problemen den rechtlichen Rahmen abgeben

- für ein Kulturfinanzierungsgesetz, das Festlegungen

enthält.

- für die verwaltungsrechtliche Ausgestaltung des Verfassungsgrundsatzes auf allen Ebenen

das die Entstaatlichung der Kultur, die inhaltliche Ausgestaltung der Kulturhoheit der Länder und Kommunen (Verpflichtung zu Kulturentwicklungsplänen als Bestandteil ihrer Selbstverwaltung) bei gleichzeitiger Regelung der zentralen, staatlichen Aufgaben wie der Förderung und Entwicklung

sichert.

In diesem gesetzlichen Rahmen sind Fragen der Entwicklung der kulturellen Infrastruktur, der Stadtgestaltung und Regionalentwicklung und der ästhetischen Kultur, insbesondere der Arbeitsplatz und umweltgestaltung, zu regeln.

- für die demokratische Ausgestaltung

Hier fordert der Runde Tisch die Schaffung eines gesetzlichen Rahmens für die Arbeit gesellschaftlicher Beiräte auf allen verwaltungsrechtlichen Ebenen zur Garantierung der demokratischen Mitbestimmungsrechte der [Bürgerinnen und] Bürger sowie der Kultur- und Kunstschaffenden an der inhaltlichen Ausgestaltung, der finanziellen Absicherung und der Kontrolle von Kultur und Kunstentwicklung.

Einreicher:

- NDPD

- Unabhängiger Frauenverband

zugleich mitgetragen durch:

- Neues Forum

- FDGB

- Vereinigte Linke

- PDS

- Schutzverbund der Künstlerverbände


[14. Sitzung des Runden Tisches am 26.02.1990]

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