Aus der Rede Helmut Kohls (CDU) am 28.11.1989 vor dem Deutschen Bundestag

(...)

Wir nähern uns damit dem Ziel, das sich das Atlantische Bündnis bereits im Dezember 1967 gesetzt hatte.

Herr Abgeordneter Vogel, wenn Sie die Unterschriften nachlesen, werden Sie unschwer feststellen, wer damals für die Bundesrepublik gezeichnet hat.

Dort heißt es - ich zitiere -:

Eine endgültige und stabile Regelung in Europa ist ... nicht möglich ohne eine Lösung der Deutschlandfrage, die den Kern der gegenwärtigen Spannungen in Europa bildet. Jede derartige Regelung muss die unnatürlichen Schranken zwischen Ost- und Westeuropa beseitigen, die sich in der Teilung Deutschlands am deutlichsten und grausamsten offenbaren.

Meine Damen und Herren, wenn das unsere gemeinsame Grundlage ist, dann können Sie, wie ich hoffe, auch dem Folgenden zustimmen:

Der Weg zur deutschen Einheit, das wissen wir alle, ist nicht vom grünen Tisch oder mit einem Terminkalender in der Hand zu planen. Abstrakte Modelle kann man vielleicht polemisch verwenden, aber sie helfen nicht weiter.

Aber wir können, wenn wir nur wollen, schon heute jene Etappen vorbereiten, die zu diesem Ziel hinführen.

(Dr. Vogel [SPD]: Sehr gut!)

Ich möchte diese Ziele an Hand eines Zehn-Punkte-Programms erläutern.

Erstens. Zunächst sind Sofortmaßnahmen erforderlich, die sich aus den Ereignissen der letzten Wochen ergeben, insbesondere durch die Fluchtbewegung und die neue Dimension des Reiseverkehrs. Die Bundesregierung ist zu sofortiger konkreter Hilfe dort bereit, wo diese Hilfe jetzt benötigt wird. Wir werden im humanitären Bereich und auch bei der medizinischen Versorgung helfen, soweit dies gewünscht wird und auch nützlich ist.

Wir wissen auch, dass das Begrüßungsgeld, das wir für jeden Besucher aus der DDR einmal jährlich zahlen, keine Lösung für die Finanzierung von Reisen sein kann. Letztlich muss die DDR selbst ihre Reisenden mit den nötigen Devisen ausstatten.

Wir sind aber bereit, für eine Übergangszeit einen Beitrag zu einem Devisenfonds zu leisten. Voraussetzung dafür ist allerdings, dass der Mindestumtausch bei Reisen in die DDR entfällt, Einreisen dorthin erheblich erleichtert werden und die DDR einen eigenen substantiellen Beitrag zu einem solchen Fonds leistet.

(Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und der SPD - Frau Dr. Vollmer [GRÜNE]: Und wie - viel zahlen Sie?)

Unser Ziel ist und bleibt ein möglichst ungehinderter Reiseverkehr in beide Richtungen.

(Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und der SPD)

Zweitens. Die Bundesregierung wird wie bisher die Zusammenarbeit mit der DDR in allen Bereichen fortsetzen, die den Menschen auf beiden Seiten unmittelbar zugute kommt. Das gilt insbesondere für die wirtschaftliche, wissenschaftlich-technologische und kulturelle Zusammenarbeit. Besonders wichtig ist eine Intensivierung der Zusammenarbeit im Bereich des Umweltschutzes. Hier kann schon in aller Kürze, wie immer sonst die Entwicklung sein mag, über neue Projekte entschieden werden.

(Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und der SPD)

Das gleiche gilt - der Bundespostminister hat die entsprechenden Gespräche eingeleitet - für einen möglichst baldigen umfassenden Ausbau der Fernsprechverbindungen mit der DDR und des Telefonnetzes der DDR.

(Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und der SPD)

Über den Ausbau der Eisenbahnstrecke Hannover-Berlin wird weiter verhandelt. Ich bin allerdings der Auffassung, dass dies zu wenig ist und dass wir angesichts der jetzt eingetretenen Entwicklung

(Zuruf von der SPD)

- nein; ich meine etwas anderes - uns einmal sehr grundsätzlich über die Verkehrs- und Eisenbahnlinien in der DDR und in der Bundesrepublik Deutschland unterhalten müssen.

(Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und der SPD sowie der Abg. Frau Garbe [GRÜNE])

Vierzig Jahre Trennung bedeuten ja auch, dass sich die Verkehrswege zum Teil erheblich auseinander entwickelt haben. Das gilt nicht nur für die Grenzübergänge, sondern beispielsweise auch für die traditionelle Linienführung der Verkehrswege in Mitteleuropa, für die Ost-West-Verbindungen. Es ist nicht einzusehen, weshalb die klassische Route Moskau-Warschau-Berlin-Paris, die ja immer über Köln führte und zu allen Zeiten große Bedeutung hatte, im Zeitalter schneller Züge und am Vorabend des Ausbaus eines entsprechenden europäischen Verkehrswesens nicht mit eingebracht werden sollte.

(Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und der SPD)

Drittens. Ich habe angeboten, unsere Hilfe und unsere Zusammenarbeit umfassend auszuweiten, wenn ein grundlegender Wandel des politischen und wirtschaftlichen Systems in der DDR verbindlich beschlossen und unumkehrbar in Gang gesetzt wird.

"Unumkehrbar" heißt für uns und vor allem für mich, dass sich die DDR-Staatsführung mit den Oppositionsgruppen auf eine Verfassungsänderung und auf ein neues Wahlgesetz verständigt.

Wir unterstützen die Forderung nach freien, gleichen und geheimen Wahlen in der DDR unter Beteiligung unabhängiger, das heißt selbstverständlich auch nichtsozialistischer, Parteien. Das Machtmonopol der SED muss aufgehoben werden.

(Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und der SPD sowie der Abg. Frau Garbe [GRÜNE])

Die geforderte Einführung rechtsstaatlicher Verhältnisse bedeutet vor allem die Abschaffung des politischen Strafrechts und als Konsequenz die sofortige Freilassung aller politischen Gefangenen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie der Abg. Frau Garbe [GRÜNE] und der Abg. Frau Eid [GRÜNE] - Frau Oesterle-Schwerin [GRÜNE]: In der Türkei sind Sie nicht so pingelig!)

- Dass Sie, die Sie hier eingezogen sind, Zeichen des Friedens zu setzen, protestieren, wenn ich über die Freilassung politischer Gefangener spreche, entspricht der Entwicklung, die Sie genommen haben.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Herr Präsident, meine Damen und Herren, wirtschaftliche Hilfe kann nur dann wirksam werden, wenn grundlegende Reformen des Wirtschaftssystems erfolgen. Dies zeigen die Erfahrungen mit allen RGW-Staaten; mit Belehrungen von unserer Seite hat das nichts zu tun. Die bürokratische Planwirtschaft muss abgebaut werden.

Wir wollen nicht unhaltbar gewordene Zustände stabilisieren. Wir wissen: Wirtschaftlichen Aufschwung kann es nur geben, wenn sich die DDR für westliche Investitionen öffnet, wenn sie marktwirtschaftliche Bedingungen schafft und privatwirtschaftliche Betätigungen ermöglicht. Wer in diesem Zusammenhang den Vorwurf der Bevormundung erhebt, den verstehe ich nicht.

(Dr. Rose [CDU/CSU]: So ist es!)

In Ungarn und in Polen gibt es jeden Tag Beispiele dafür, an denen sich doch die DDR - ebenfalls Mitgliedstaat des RGW - ohne weiteres orientieren kann.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie des Abg. Stahl [Kempen] [SPD])

Unser und mein dringender Wunsch ist es, dass es möglichst rasch zu einer solchen Gesetzgebung kommt. Denn es wäre für uns ein wenig erfreulicher Zustand, wenn - was ich ebenfalls wünsche - Privatkapital aus der Bundesrepublik Deutschland in Polen und noch mehr - die Dinge entwickeln sich sehr erfreulich - in Ungarn investiert würde und mitten in Deutschland diese Investitionen ausbleiben. Wir wollen, dass möglichst viele derartige Investitionen von möglichst zahlreichen Unternehmen getätigt werden.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Ich will es noch einmal klar unterstreichen: Dies sind keine Vorbedingungen, sondern das ist schlicht und einfach die sachliche Voraussetzung, damit Hilfe überhaupt greifen kann.

(Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und bei Abgeordneten der SPD)

Im übrigen kann kein Zweifel daran bestehen, dass dies auch die Menschen in der DDR wollen. Sie wollen wirtschaftliche Freiheit, und sie wollen damit die Früchte ihrer Arbeit endlich ernten und mehr Wohlstand gewinnen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Wenn ich heute die Diskussion zu diesem Thema - der künftigen Wirtschaftsordnung in der DDR - innerhalb der SED selbst verfolge - wir werden es in ein paar Tagen auf dem Parteitag der SED vor aller Öffentlichkeit erleben können -, dann kann ich beim besten Willen nicht erkennen, dass derjenige, der das hier ausspricht, sich in die inneren Angelegenheiten der DDR einmischt. Ich finde das ziemlich absurd.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Zurufe des Abg. Dr. Lippelt [Hannover] [GRÜNE])

- Es lohnt sich wirklich nicht, auf die Beiträge, die Sie dazwischenrufen, einzugehen. Bloß, es bedrückt mich, wie weit Sie in Tat und Wahrheit von der inneren Situation der Menschen in der DDR und in der Bundesrepublik Deutschland entfernt sind.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Viertens. Ministerpräsident Modrow hat in seiner Regierungserklärung von einer Vertragsgemeinschaft gesprochen. Wir sind bereit, diesen Gedanken aufzugreifen. Denn die Nähe und der besondere Charakter der Beziehungen zwischen den beiden Staaten in Deutschland erfordern ein immer dichteres Netz von Vereinbarungen in allen Bereichen und auf allen Ebenen.

Diese Zusammenarbeit wird zunehmend auch gemeinsame Institutionen erfordern. Bereits bestehende Kommissionen könnten neue Aufgaben erhalten, weitere könnten gebildet werden. Ich denke dabei insbesondere an die Bereiche Wirtschaft, Verkehr, Umweltschutz, Wissenschaft und Technik, Gesundheit und Kultur. Ich brauche nicht zu betonen, dass bei all dem, was jetzt zu geschehen hat, für uns Berlin voll einbezogen bleiben muss. Das war, ist und bleibt unsere Politik.

(Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und der SPD)

Fünftens. Wir sind aber auch bereit, noch einen entscheidenden Schritt weiterzugehen, nämlich konföderative Strukturen zwischen beiden Staaten in Deutschland zu entwickeln mit dem Ziel, eine Föderation, d. h. eine bundesstaatliche Ordnung, in Deutschland zu schaffen. Das setzt aber eine demokratisch legitimierte Regierung in der DDR zwingend voraus.

Dabei könnten wir uns schon bald nach freien Wahlen folgende Institutionen vorstellen: einen gemeinsamen Regierungsausschuss zur ständigen Konsultation und politischen Abstimmung, gemeinsame Fachausschüsse, ein gemeinsames parlamentarisches Gremium - und manches andere mehr angesichts einer völlig neuen Entwicklung.

Die bisherige Politik gegenüber der DDR musste sich angesichts der Verhältnisse im wesentlichen auf kleine Schritte beschränken, mit denen wir vor allem versuchten, die Folgen der Teilung für die Menschen zu mildern und das Bewusstsein für die Einheit der Nation wachzuhalten und zu schärfen. Wenn uns künftig eine demokratisch legitimierte, d. h. frei gewählte Regierung als Partner gegenübersteht, eröffnen sich völlig neue Perspektiven. Stufenweise können neue Formen institutioneller Zusammenarbeit entstehen und ausgeweitet werden.

Herr Präsident, meine Damen und Herren, ein solches Zusammenwachsen liegt in der Kontinuität der deutschen Geschichte. Staatliche Organisation in Deutschland hieß in unserer Geschichte fast immer auch Konföderation und Föderation. Wir können doch auf diese historischen Erfahrungen zurückgreifen.

(Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und der SPD)

Wie ein wiedervereinigtes Deutschland schließlich aussehen wird, das weiß heute niemand. Dass aber die Einheit kommen wird, wenn die Menschen in Deutschland sie wollen, dessen bin ich sicher.

(Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Beifall bei der SPD)

Sechstens. Die Entwicklung der innerdeutschen Beziehungen bleibt eingebettet in den gesamteuropäischen Prozess, d.h. immer auch in die West-Ost-Beziehungen. Die künftige Architektur Deutschlands muss sich einfügen in die künftige Architektur Gesamteuropas. Hierfür hat der Westen mit seinem Konzept der dauerhaften und gerechten europäischen Friedensordnung Schrittmacherdienste geleistet.

Generalsekretär Gorbatschow und ich sprechen in der Gemeinsamen Erklärung vom Juni dieses Jahres, die ich bereits zitiert habe, von den Bauelementen eines "gemeinsamen europäischen Hauses". Ich nenne beispielhaft dafür die uneingeschränkte Achtung der Integrität und der Sicherheit jedes Staates.

Jeder Staat hat das Recht, das eigene politische und soziale System frei zu wählen. Ich nenne die uneingeschränkte Achtung der Grundsätze und Normen des Völkerrechts, insbesondere Achtung des Selbstbestimmungsrechts der Völker. Ich nenne die Verwirklichung der Menschenrechte. Ich nenne die Achtung und Pflege der geschichtlich gewachsenen Kulturen der Völker Europas. Mit alledem wollen wir - so haben es Generalsekretär Gorbatschow und ich festgeschrieben - an die geschichtlich gewachsenen europäischen Traditionen anknüpfen und zur Überwindung der Trennung Europas beitragen.

Siebtens. Die Anziehungs- und Ausstrahlungskraft der Europäischen Gemeinschaft ist und bleibt eine entscheidende Konstante der gesamteuropäischen Entwicklung. Wir wollen und müssen sie weiter stärken. Die Europäische Gemeinschaft ist jetzt gefordert, mit Offenheit und Flexibilität auf die reformorientierten Staaten Mittel-, Ost- und Südosteuropas zuzugehen. Dies haben die Staats- und Regierungschefs der EG-Mitgliedstaaten kürzlich bei ihrem Treffen in Paris ja auch so festgestellt.

Hierbei ist die DDR selbstverständlich eingeschlossen. Die Bundesregierung befürwortet deshalb den baldigen Abschluss eines Handels- und Kooperationsabkommens mit der DDR, das den Zugang der DDR zum Gemeinsamen Markt erweitert, auch was die Perspektive 1992 betrifft. Wir können uns für die Zukunft sehr wohl bestimmte Formen der Assoziierung vorstellen, die die Volkswirtschaften der reformorientierten Staaten Mittel- und Südosteuropas an die EG heranführen und damit das wirtschaftliche und soziale Gefälle auf unserem Kontinent abbauen helfen. Das ist eine der ganz wichtigen Fragen, wenn das Europa von morgen ein gemeinsames Europa sein soll.

(Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und der SPD)

Herr Präsident, meine Damen und Herren, den Prozess der Wiedergewinnung der deutschen Einheit verstehen wir immer auch als europäisches Anliegen. Er muss deshalb auch im Zusammenhang mit der europäischen Integration gesehen werden. Ich will es ganz einfach so formulieren: Die EG darf nicht an der Elbe enden, sondern muss die Offenheit auch nach Osten wahren.

(Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und der SPD - Dr. Vogel [SPD]: Sehr gut!)

Nur in diesem Sinne - wir haben das Europa der Zwölf immer nur als einen Teil und nicht als das Ganze verstanden - kann die Europäische Gemeinschaft Grundlage einer wirklich umfassenden europäischen Einigung werden. Nur in diesem Sinne wahrt, behauptet und entwickelt sie die Identität aller Europäer. Diese Identität, meine Damen und Herren, ist nicht nur in der kulturellen Vielfalt Europas, sondern auch und vor allem in den Grundwerten von Freiheit, Demokratie, Menschenrechten und Selbstbestimmung begründet.

(Frau Dr. Vollmer [GRÜNE]: Was wird aus den anderen Teilen der Welt? - Unruhe)

Soweit die Staaten Mittel- und Südosteuropas die erforderlichen Voraussetzungen erfüllen, würden wir es auch begrüßen, wenn sie dem Europarat und insbesondere auch der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten beiträten.

(Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und der SPD)

Achtens. Der KSZE-Prozess ist ein Herzstück dieser gesamteuropäischen Architektur. Wir wollen ihn vorantreiben und die bevorstehenden Foren nutzen: die Menschenrechtskonferenzen in Kopenhagen 1990 und in Moskau 1991, die Konferenz über wirtschaftliche Zusammenarbeit in Bonn 1990, das Symposion über das kulturelle Erbe in Krakau 1991 und nicht zuletzt das nächste Folgetreffen in Helsinki. Dort sollten wir auch über neue institutionelle Formen der gesamteuropäischen Zusammenarbeit nachdenken.

Wir könnten uns eine gemeinsame Institution zur Koordinierung der West-Ost-Wirtschaftszusammenarbeit sowie die Einrichtung eines gesamteuropäischen Umweltrates sehr gut vorstellen.

(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP)

Neuntens. Die Überwindung der Trennung Europas und der Teilung Deutschlands erfordern weitreichende und zügige Schritte in der Abrüstung und Rüstungskontrolle. Abrüstung und Rüstungskontrolle müssen mit der politischen Entwicklung Schritt halten und, wenn notwendig, beschleunigt werden. Dies gilt im besonderen für die Wiener Verhandlungen über den Abbau konventioneller Streitkräfte in Europa und für die Vereinbarung vertrauensbildender Maßnahmen ebenso wie für das weltweite Verbot chemischer Waffen, das, wie ich hoffe, 1990 kommen wird.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD)

Dies erfordert auch, dass auch die Nuklearpotentiale der Großmächte auf das strategisch erforderliche Minimum reduziert werden können.

Das bevorstehende Treffen zwischen Präsident Bush und Generalsekretär Gorbatschow bietet eine gute Gelegenheit, den jetzt laufenden Verhandlungsrunden neue Schubkraft zu geben. Wir bemühen uns - auch in zweiseitigen Gesprächen mit den Staaten des Warschauer Paktes einschließlich der DDR -, diesen Prozess zu unterstützen.

Zehntens. Mit dieser umfassenden Politik wirken wir auf einen Zustand des Friedens in Europa hin, in dem das deutsche Volk in freier Selbstbestimmung seine Einheit wiedererlangen kann. Die Wiedervereinigung, d.h. die Wiedergewinnung der staatlichen Einheit Deutschlands, bleibt das politische Ziel der Bundesregierung.

(Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Wir sind dankbar, dass wir in der Erklärung des Brüsseler NATO-Gipfels vom Mai dieses Jahres dafür erneut die Unterstützung unserer Freunde und Partner gefunden haben.

Meine Damen und Herren, wir sind uns bewusst, dass sich auf dem Weg zur deutschen Einheit viele schwierige Fragen stellen, auf die korrekterweise heute niemand eine abschließende Antwort geben kann.

(Zuruf von den GRÜNEN)

Dazu gehört vor allem auch - ich betone das - die ebenso schwierige wie entscheidende Frage übergreifender Sicherheitsstrukturen in Europa.

Die Verknüpfung der deutschen Frage mit der gesamteuropäischen Entwicklung und den West-Ost-Beziehungen - wie ich sie soeben in zehn Punkten erläuterte - ermöglicht eine organische Entwicklung, die den Interessen aller Beteiligten Rechnung trägt und - dies ist unser Ziel - einer friedlichen und freiheitlichen Entwicklung in Europa den Weg bahnt.

Nur miteinander und in einem Klima des wechselseitigen Vertrauens können wir die Teilung Europas, die immer auch die Teilung Deutschlands ist, friedlich überwinden.

Das heißt, wir brauchen auf allen Seiten Besonnenheit, Vernunft und Augenmaß, damit die jetzt begonnene - so hoffnungsvolle - Entwicklung stetig und friedlich weiter verläuft. Was diesen Prozess stören könnte, sind nicht Reformen, sondern deren Verweigerung. Nicht Freiheit schafft Instabilität, sondern deren Unterdrückung.

(Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Jeder gelungene Reformschritt bedeutet für ganz Europa ein Mehr an Stabilität und einen Zugewinn an Freiheit und Sicherheit.

Herr Präsident, meine Damen und Herren, in wenigen Wochen beginnt das letzte Jahrzehnt dieses Jahrhunderts, ein Jahrhundert, das so viel Elend, Blut und Leid sah. Es gibt heute viele hoffnungsvolle Zeichen dafür, dass die 90er Jahre die Chancen für mehr Frieden und mehr Freiheit in Europa und in Deutschland in sich tragen. Es kommt dabei - jeder spürt dies - entscheidend auch auf unseren, den deutschen Beitrag an. Wir alle sollten uns dieser Herausforderung der Geschichte stellen.

(Anhaltender lebhafter Beifall bei der CDU/CSU und der FDP, Beifall bei der SPD - Die Abgeordneten der CDU/CSU erheben sich)


Vizepräsident Cronenberg: Das Wort hat der Abgeordnete Voigt (Frankfurt).

(Dr. Rose [CDU/CSU]: Was kann uns der noch bieten? - Carstensen [Nordstrand] [CDU/CSU]: Gib die Rede zu Protokoll!)

Voigt (Frankfurt) (SPD): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Bundeskanzler, Sie sind mit den zehn Punkten, die Sie hier vorgetragen haben, in vielen Begriffen - Politik der kleinen Schritte, KSZE - auf uns zugegangen. In einer solchen Situation, vor solchen Herausforderungen werden wir Sozialdemokraten auch nicht davor zurückscheuen, auf Sie zuzugehen.

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der FDP)

Sie werden gemerkt haben, dass zwischen den Ausführungen von Jochen Vogel heute morgen und dem, was Sie jetzt in den zehn Punkten vorgetragen haben, keine konzeptionellen Differenzen zu erkennen sind.

(Zuruf von der CDU/CSU: Bravo!)

Deshalb stimmen wir Ihnen in allen zehn Punkten zu.

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der FDP - Zuruf von der CDU/CSU: Wiedervereinigung?)

(...)

Deutscher Bundestag, Stenographischer Bericht, 177. Sitzung, Bonn, Dienstag, den 28. November 1989


Die Zustimmung der SPD wurde innerhalb der Partei heftig kritisiert.

In der Beratungen im Präsidium der SPD über die Verabschiedung einer deutschlandpolitischen Erklärung, am 10.12.1989 sagte der SPD-Vorsitzende Hans-Jochen Vogel, "die Reaktion auf die 10 Punkte des Bundeskanzlers, sei richtig gewesen. Als falsch bezeichnete er es, wenn die Fraktion auf die achteinhalb richtigen Punkte von Kohl ein Nein formuliert hätte. Er habe es als nicht hilfreich empfinden können, dass von Oskar Lafontaine die 10-Punkte-Erklärung des Bundeskanzlers als Sammelsurium von Gemeinplätzen und Gewäsch bezeichnet wurde. Auch er hätte gerne, wie dies von ihm erwartet wurde, vier Wochen eher die Forderung nach einer Konföderation erhoben. Eine Kritik in diesem Punkte müsse er jedoch zurückweisen. Wie bekannt, habe es dazu in den letzten Monaten in der Partei keine Einigung gegeben. Er wies auf das Spektrum der Meinungen hin, die sowohl in der Arbeitsgruppe Deutschlandpolitik als auch in der Fraktion zur deutschen Frage vertreten wurden. Er als Vorsitzender habe sich nicht nach außen wenden können, ohne sicher zu sein, dass er nicht sofort Widerspruch aus den eigenen Reihen ernte".

In dem Buch "Eine neue Welt" von George Bush und Brent Scowcroft schreibt George Bush, Helmut Kohl habe in am nächsten Tag angerufen und ihm gesagt, er erwarte freie Wahlen in der DDR bis Herbst 1990 oder Anfang 1991. Es wird ein langwieriger Prozess sein. Die DDR wird im Warschauer Pakt bleiben und wir in der NATO.

Während eines Gesprächs mit Mitglieder des Kongresses der USA am 29.05.1990 sagte Helmut Kohl, Ende November 1989 habe er sich eine Vertragsgemeinschaft mit der DDR im Jahre 1990 vorgestellt. Konföderative Schritte 1991/92 und 1993-95 könne eine Föderation entstehen.

Hans-Dietrich Genscher schrieb in seinen Erinnerungen 1995: "In der Sache blieb die Erklärung des Bundeskanzlers weit hinter den tatsächlichen Gegebenheiten des Vereinigungsprozesses zurück. Längst war die Entwicklung über eine Konföderation hinweggegangen."


Am 28.11.1989 sagte Hans-Dietrich Genscher im Bundestag:

"Die Freie Demokratische Partei - ich spreche hier nicht nur für mich persönlich, sondern für meine Partei, weil ich der erste Redner nach der Rede des Bundeskanzlers bin unterstützt die in den 10 Punkten formulierte Politik.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU - Becker[Nienberge] [SPD]: Die SPD auch!)

Sie liegt in der Kontinuität unserer Außen-, Sicherheits- und Deutschlandpolitik, die wir im Parlament, in der Öffentlichkeit und in der Regierungsverantwortung vertreten. Sie entspricht dem, was das Präsidium der Freien Demokratischen Partei gestern zu der Deutschlandpolitik, eingebettet in die europäische Friedenspolitik, zum Ausdruck gebracht hat."

Deutscher Bundestag, Stenographischer Bericht, 177. Sitzung, Bonn, Dienstag, den 28. November 1989


Hans-Dietrich Genscher wurde vorher von Kohl nicht unterrichtet, was ihn sehr wurmte. Obwohl keine mediale Vorankündigung über die Reise nach Prag am Nachmittag des 30.09.1989 von Hans-Dietrich Genscher und Rudolf Seiters vereinbart war, ließ Genscher schon vor Ankunft in Prag den Presseagenturen sein Reiseziel und damit der Öffentlichkeit mitteilen.

Genscher revanchierte sich, indem er Kohl nicht vorab über seine Rede in der Evangelischen Akademie in Tutzing am 31.01.1990 informierte. Kohl wiederum verschwieg Genscher, dass er von Michail Gorbatschow im Februar nach Moskau eingeladen wurde.

Anfang Februar 1990 legte der Regierende Bürgermeister von Berlin, Walter Momper, ein 9-Punkte-Plan vor.


Einen eigenen 10-Punkte-Plan hat der saarländische Ministerpräsident Oskar Lafontaine am Freitag [12.01.1990] auf einer Pressekonferenz in Saarbrücken vorgelegt.

Der Plan enthält zahlreiche Abrüstungsforderungen, die Forderung nach endgültiger Anerkennung der polnischen Westgrenze, gesetzliche Maßnahmen zur Einschränkung der Abwanderung aus der DDR und anderen sozialistischen Staaten sowie den Vorschlag zu einer wirklichen wirtschaftlichen Unterstützung für die DDR. Unter Anspielung auf den 10-Punkte-Plan von Bundeskanzler Kohl sagte Lafontaine, sein Plan sei bei den Wählern populärer.

Im Saarland finden am 28. Januar Landtagswahlen statt. Der Plan sieht u. a. die Reduzierung der Militärausgaben;

Abschaffung der Tiefflüge;

keine neuen Atomraketen;

Reduzierung der Wehrdienstzeit;

Abschaffung des Fremdrentengesetzes sowie ein Sozialabkommen mit der DDR;

Auslaufen des Vertriebenengesetzes;

das Nichtinfragestellen der Oder-Neiße-Grenze vor.

Ein Teil dieser Maßnahmen solle dazu beitragen, so Lafontaine, den Anstieg der Arbeitslosigkeit in der BRD und das Ausbluten der DDR zu verhindern. Auf die Frage, wie er zu den Abrüstungsvorschlägen des SED-PDS-Vorsitzenden Gregor Gysi stehe, sagte er unter Hinweis auf die Reduzierung der Wehrdienstzeit, den Truppenabbau und das Einstellen der Tiefflüge, dass er diese Punkte aufgreifen könne. Nachdrücklich wies Lafontaine darauf hin, dass insbesondere der "idiotische Beschluss" über die Stationierung von Kurzstreckenraketen in der BRD, die auf Leipzig, Dresden, Warschau und Prag gerichtet seien, fallen müsse.

Berliner Zeitung, Sa. 13.01.1990, Jahrgang 46, Ausgabe 11

Stellungnahme des DDR-Regierungssprechers 28.11.1989

WARSCHAU. "Solidarność"-Führer Lech Walesa hat den Plan von BRD-Bundeskanzler Kohl zur Schaffung "konföderativer Strukturen" zwischen den beiden deutschen Staaten abgelehnt "Jede politische Handlung in Europa, die darauf abzielt, was auch immer wo auch immer zu vereinen, ist zum Scheitern verurteilt", meinte er.

National-Zeitung, Do. 30.11.1989

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