Genossen aus Berliner SED-Grundorganisationen versammelten sich in den Nachmittagsstunden am Mittwoch vor der Parteizentrale. Bis in die Abendstunden vergrößerte sich deren Zahl weiter. Mit Nachdruck machten sie am Tagungsort des Zentralkomitees auf Vorschläge und Forderungen der Parteibasis aufmerksam. Auf Transparenten und in Sprechchören teilten sie mit, was Kommunisten von ihrer Führung erwarteten: "SED in die Offensive", "Für eine Parteiführung, die auf das Volk hört", "SED - Sozialismus, Ehrlichkeit, Demokratie", "Sozialismus Wende ohne Umkehr", "Erneuerung der SED - Neuer Sozialismus", "Parteikonferenz - wir stehen zu Egon Krenz". Und: "Ehrlichkeit ist die beste Politik", "Trotz alledem: Ja zur SED und gerade jetzt".
(Neues Deutschland, Do. 09.11.1989)
Berlin (ADN/JW) Viele tausend Mitglieder der SED aus Berliner Grundorganisationen bekundeten am Mittwochnachmittag vor dem Hause des Zentralkomitees in Berlin ihre Entschlossenheit für eine glaubwürdige Erneuerung ihrer Partei zu wirken und zu kämpfen. Die Demonstranten folgten einem Aufruf der Grundorganisation des Zentrums für wissenschaftlichen Gerätebau der Akademie der Wissenschaften der DDR, dem sich die Kreisorganisation der Akademie angeschlossen hatte.
Als erster Redner sprach die Schriftstellerin Helga Königsdorf zu den Kundgebungsteilnehmern. Sie hob den Ernst der gegenwärtigen Lage hervor und wandte sich unter Beifall an die Jugend. an Ärzte und Schwestern das Land nicht im Stich zu lassen.
Danach sprach der Produktionsarbeiter Ralf Michallak aus dem VEB Mikroelektronik Secura Berlin zu den Demonstranten, die auf Transparenten Forderungen wie "Sofortige Erneuerung der SED" und „Genossen vom ZK: Mut zur Tat“ artikulierten. Aus dieser Kundgebung schöpfe er als Kommunist Mut. Mit Bitterkeit dagegen registriere er, dass eine solche Lage entstanden ist, weil sich die Führung der Partei von der Basis gelöst habe. Jetzt müssten Forderungen gestellt werden, die ein Weiterexistieren der SED als kommunistische Partei möglich machen. Auf der ZK-Tagung müsse in erster Linie der Platz festgelegt werden, den Kommunisten künftig einnehmen. Er forderte die Teilnahme von Arbeitern aus Betriebskollektiven an dieser und künftigen Tagungen des ZK. Außerdem müssten nach seiner Meinung in den SED-Grundorganisationen des Landes in der nächsten Woche außerordentliche Mitgliederversammlungen stattfinden.
Für kurze Zeit seinen Platz im Plenarsaal verlassend, informierte Politbüromitglied Günter Schabowski die Demonstranten auf dem Werderschen Markt vom bisherigen Verlauf der 10. ZK-Tagung.
Er informierte die Zuhörer detailliert über die Ergebnisse der Wahl, die mit zustimmendem Beifall und ablehnenden Pfiffen aufgenommen wurden. Günter Schabowski versprach, dem Zentralkomitee zu berichten, wie diese Wahl aufgenommen worden ist. Er betrachte es als Auftrag, "dem Zentralkomitee mit dem Mandat der vielen Tausend, die hier stehen, zu sagen, dass die Mitgliedschaft mit großem Nachdruck eine Parteikonferenz einberufen sehen will". Dagegen bestehen Bedenken, wollte er recht verhehlen.
Willensbekundung für die Existenz des Sozialismus
Was zahlreiche Redner und die Teilnehmer der Kundgebung in Sprechchören immer wieder zum Ausdruck brachten, forderte auch Michael Brie von der Humboldt-Universität: die Einberufung eines außerordentlichen Parteitages. Er kritisierte, dass die Partei die Zeit bis zur 10. Tagung nicht genügend genutzt hätte. Durch die Eskalation am 7. und 8. Oktober habe sie die Existenz des Sozialismus in der DDR aufs Spiel gesetzt.
Die Zeit des Verkehrs zwischen Führung und Basis in Form von Schlussworten sei endgültig vorbei, sagte Ulrich Röseberg, der eine Erklärung seiner Grundorganisation im Akademie-Zentralinstitut für Philosophie an die 10. Tagung verlas. Darin wird unter anderem auf die Rechenschaftspflicht aller gewählten Funktionäre verwiesen. Rücktritte würden dies nicht aufheben, eine Meinung, die vielfache Unterstützung fand. Weiterhin wurden alle Grundorganisationen der SED aufgerufen, die Einberufung eines außerordentlichen Parteitages in Telegrammen an das Plenum zu unterstützen.
In vielen Wortmeldungen kam der Wunsch nach sofortigen Neuwahlen auf allen Ebenen, der Partei zum Ausdruck. Klaus Greiner von der Hochschule für Schauspielkunst "Ernst Busch" stellte dazu fest, das gegenwärtige ZK habe nicht die Legitimation, ein neues Politbüro zu wählen. Der Lehrer Georg Litsche sagte, jedes SED-Mitglied müsse Stellung nehmen, was es gegen die Deformation in der Partei getan habe. Der Parteisekretär einer Jugendschule in Buckow, Fred Beuchel, trat für die öffentliche Übertragung der ZK-Tagung ein. Die Einheit der Arbeiterklasse beschwor Arbeiterveteran Werner Polanke, der seit seiner Jugend
in den zwanziger Jahren Kommunist ist.
Wie Heinrich Gemkow, Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED, sprachen zahlreiche Redner die Erwartung aus, dass das Plenum ein wirkliches Aktionsprogramm ausarbeiten werde und die Nachtrabpolitik aufhöre.
Der Historiker Rolf Richter warf die Frage auf, ob die radikal veränderte Situation im Lande auf allen Führungsebenen schon begriffen worden sei. Falk Pauschke von der Grundorganisation Wissenschaftliches Informationszentrum schlug vor, anschließend die zur Demonstration mitgebrachten Transparente und Plakate auf dem Rasen vor dem Haus des Zentralkomitees als "Erinnerung" niederzulegen. Eine neue Frauenpolitik der Partei forderten Karin Rother und Eva Maleck-Lewy. Einige Redner sprachen zur prekären Wirtschaftssituation. Immer wieder forderten die Teilnehmer mit Sprechchören "Egon, Egon!" den Generalsekretär vor das Haus.
Forderung nach wirklichem Aktionsprogramm der SED
Durch Ignoranz der Führung gegenüber dem Willen des Volkes ist der Sozialismus in des DDR zur Disposition gestellt worden, sagte Norbert Frank, Parteisekretär der Sektion Rechtswissenschaften der Humboldt-Universität, und erklärte sein "Nein" zum neuen Politbüro. Peter Rolle, seit zwei Jahren Parteimitglied, sprach für die Jugend in der SED. Er habe sich in der Partei nicht immer wohl gefühlt. Als Instrukteur der FDJ-Kreisleitung Oranienburg sei schmerzlich für ihn, dass manche der jungen Leute, die er kannte und mit denen er gesprochen habe, das Land verlassen haben.
Unmittelbar nach Beendigung seines Referats vor dem 10. Plenum des ZK der SED trat Generalsekretär Egon Krenz am Mittwoch gegen 18.00 Uhr vor die vielen tausend Teilnehmer der Kundgebung. Er gestehe, dass diese Art Fortsetzung der ZK-Tagung auch für ihn etwas Neues darstelle. "Aber ich verstehe, dass ihr den Kurs der Erneuerung der Partei voll unterstützen wollt", rief er unter starkem Beifall aus. Er habe Hunderte, ja Tausende Briefe in den letzten Tagen bekommen und könne versprechen, dass alle darin enthaltenen Vorschläge und Bitten in die Arbeit dieses Plenums Eingang finden werden. Als immer wieder der Ruf nach einer Parteikonferenz noch in diesem Jahr laut wurde, bat er um Verständnis, dass er im Interesse der Demokratie nicht mit einer einzelnen Ansicht dem Ergebnis der Diskussion dieser ZK-Tagung vorgreifen könne.
Bewegt von den vielfachen Bekundungen starker Anteilnahme der Versammelten am Gang der Dinge im Zentralkomitee, sagte Egon Krenz, wir werden alles, was wir uns jetzt vornehmen, in konkrete Taten umsetzen. Und das ist es, was wir wollen: Einen Sozialismus, der wirtschaftlich effektiv ist, der politisch demokratisch ist, der moralisch sauber ist und der in allem den Menschen zugewandt ist.
(Junge Welt, Do. 09.11.1989)
Günter Schabowski teilt den Kundgebungsteilnehmern vor dem ZK-Gebäude der SED mit, das ZK habe beschlossen, der Volkskammerfraktion der SED zu empfehlen, Hans Modrow zur Wahl des Vorsitzenden des Ministerrats vorzuschlagen.