"Dialog", "Gesprächsbereitschaft" - nur die Worte "Gott" und "Frieden" fallen am Montag Abend in der Leipziger Nikolai-Kirche so häufig wie die dringlichen Appelle, doch miteinander ins Gespräch zu kommen. Am Ende dieses Abends hat Leipzig mit mehr als 50 000 Demonstranten die größte Demonstration in der DDR-Geschichte seit 1953 zu vermelden. Und es gibt zumindest erste Anzeichen dafür, dass die Dialog-Appelle von der Kirchenkanzel andernorts schon zuvor offene Ohren gefunden hatten.
Bereits um halb zwei nachmittags kommen an diesem Montag die ersten Besucher zu dem schon Tradition gewordenen Friedensgottesdienst in die Nikolai-Kirche, der erst für 17 Uhr angesetzt ist. Obwohl parallel dazu erstmals auch drei weitere Leipziger Kirchen ihre Portale zu solchen Friedensgottesdiensten geöffnet haben, muss die Nikolai-Kirche schon kurz nach 15 Uhr wegen Überfüllung ihre Pforten schließen. Mehrere Stunden warten drinnen - meist schweigend - rund 1 400 Menschen aller Altersgruppen, bis endlich das Orgelspiel den Gottesdienst einleitet.
Die meisten Anwesenden, deren Altersdurchschnitt diesmal bei über 30 Jahren liegt, sitzen wohl zum ersten Mal auf diesen Kirchenbänken. Die Lieder vom „Geist, der Licht und Klarheit” verbreiten soll und die Gebete auch für die "Brüder von der Staatssicherheit” kommen einigen bei aller Mühe nur schwer über die Lippen. Gespannte Ruhe immer dann, wenn vom Altar aus endlich die Berichte und Informationen verlesen werden, um derentwillen die meisten der Anwesenden gekommen sind.
Delegation aus Dresden
Mit lautstarkem Beifall werden zwei Vertreter der Dresdener Demonstranten begrüßt: ja, es ist wahr, zwanzig aus ihren Reihen Ausgewählte haben tatsächlich am Montag Vormittag ein Gespräch mit dem Dresdener Oberbürgermeister geführt. Über den Inhalt des Gespräche wollen die Dresdener Besucher nichts Konkretes sagen, nur so viel, dass der Dialog fortgesetzt werden soll.
Dann zwischen Liedern und Gebeten wird erstmals die aufsehenerregende Erklärung verlesen, in der außer dem Genwandhausorchesterchef Kurt Masur drei Sekretäre der SED-Bezirksleitung verbürgen, dass "sie sich mit all ihrer Kraft und Autorität” dafür einsetzen werden, dass es nicht nur in Leipzig Gespräche zwischen Regierung und Demonstranten geben wird. Mit starkem Applaus, aber ohne offenkundiges Erstaunen, wird dieser überraschende Aufruf von den Kirchenbesuchern zur Kenntnis genommen. Mit dem anderen Ohr hören sie unruhig auf das rhythmische Klatschen und Rufen, das vom Kirchenvorplatz durch die dicken Mauern dringt. "Dass die da draußen hören, worüber wir hier reden", beschwört der Pastor der Nikolai-Kirche die Friedfertigkeit und die Notwendigkeit des Dialogs. Für alle Fälle soll die Kirche zum Schutz die Nacht über offen bleiben.
Unüberhörbar schwingt in vielen Redebeiträgen die Angst mit, es könnte an diesem Abend zu schweren Auseinandersetzungen kommen. Noch einmal wird ein Leserbrief aus der Leipziger Volkszeitung wird zitiert, in dem ein Kommandeur verlangt, notfalls auch mit der Schusswaffe gegen die Demonstranten vorzugehen. Landesbischof Hempel, der eigens in die Nikolai-Kirche gekommen ist, fleht förmlich, diese Nacht möge schon vorüber sein. Der Landesbischof ist es auch, der in verschlungener, aber unmissverständlicher Sprache vor Toten an diesem Abend warnt. "Menschenleben", so warnt er, "sind wichtiger als Freiheit oder Demokratie".
Die Straße dem Volk
Nur noch ungeduldig bleiben die Anwesenden nach diesen Worten auf den Bänken sitzen, denn draußen werden die "Wir bleiben hier!"-Rufe und das rhythmische Klatschen der auf die Kirchenbesucher Wartenden immer lauter. Als sich schließlich die Kirchentüren öffnen, folgt kaum jemand der Empfehlung des Gemeindepastors, "nicht hastig aber zügig nach Hause zu gehen".
Von der Nikolai-Kirche schiebt sich stattdessen ein ständig anwachsender Demonstrationszug auf den Karl-Marx-Platz, der zu diesem Zeitpunkt schon Tausenden von Leuten gehört. Straßenbahnen und Autos haben angesichts der Menschenmenge längst resigniert.
Nur ein paar weiß-uniformierte Verkehrspolizisten haben noch nicht aufgegeben und leiten auch noch die letzten spärlichen Autos an den Menschenmassen vorbei. Schon am vergangenen Montag hatte Leipzig ein historisches Zeichen gesetzt, als 20 000 Demonstranten nach dem Friedensgottesdienst spontan durch die Straßen zogen. Dieses Mal sind es mehr als doppelt so viele, die die Innenstadt von "Neues Forum zulassen!" und "Gorbi, Gorbi!"-Rufen erhallen lassen.
Zwischen 50 000 und 70 000 Menschen mögen es sein, die zwei Stunden lang das Zentrum in einen wahren Trudel versetzen. In breiten Reihen zieht der Demonstrationszug am Bahnhof vorbei um die Innenstadt herum, und die Menschenmassen auf den Bürgersteigen ziehen mit, begleiten die Demonstranten im selben Tempo. An diesem Abend sind es vor allem auch ältere Menschen, die in diesem Staat, in dem vor einem Monat noch nicht einmal ungefragt einen Café-Stuhl verrückt wurde, ganz selbstverständlich den Verkehr lahmlegen.
"Wir sind das Volk!" heißt die Parole des Tages, und für diesen Abend hat sich die Staatsgewalt entschieden, das das Volk auch Volk sein zu lassen. Gerüchte kursieren zwar am Straßenrand: "Ganz Leipzig ist abgesperrt." "Da vorn ist eine Bullensperre." Aber erstmals seit den erstarkenden Demonstrationen der letzten Wochen hat sich die Polizei fast vollständig zurückgezogen und lässt die Demonstranten ungehindert die spontan eingeschlagene Route wählen.
Nur die grün-uniformierten Betriebskampfgruppen stehen mit großem Aufgebot bereit. Bis in den späten Abend hinein werden ihre Lkws von Demonstranten umringt, die mit den "Genossen" das Gespräch suchen. "Mensch, ihr könnt doch nicht auf eure eigenen Kinder einprügeln!" heißt es immer wieder aus den Diskussionstrauben. "Ihr wisst doch selber, was in den Betrieben alles schief läuft. Da muss doch was passieren." Immer wieder an diesem Abend das Erstaunen über sich selbst: "Mensch, das darf doch nicht wahr sein!" "Das gibt's doch gar nicht! Nee, daran können die nicht mehr vorbei!"
Dass die zumindest in Dresden und Leipzig Zeichen von Dialogbereitschaft setzen, geht unter der Freude über die ungewohnte Eroberung der Straße fast unter. Der Leipziger Aufruf der drei SED Bezirkssekretäre, der wie von Geisterstimme im Halbstundentakt aus einem Lautsprecher hallt, bleibt zunächst beinahe unbeachtet. Erst als der Demonstrationszug nach eineinhalb Stunden erneut am Karl-Marx-Platz angelangt ist, strömen die Leute zusammen, hören gespannt zu, applaudieren. Als sich in Leipzig gegen 21 Uhr die bisher größte Demonstration auflöst, ist in den DDR-Medien von Dialog keine Spur. Wenn die Demonstranten dann bei ihrer Ankunft zuhause den Fernseher angeschaltet haben, konnten sie in der "Aktuellen Kamera" erfahren, was sie in der real-sozialistischen Wahrheitsfindung immer noch sind: "anti-sozialistische Störer” und "vom Westen ferngesteuerte Randalierer".
(die tageszeitung, 11.10.1989)
Am Abend berichtet Christoph Wonneberger mittels Telefon in der ARD-Sendung "Tagesthemen" über die Ereignisse in Leipzig.
In der Nachrichtensendung "Aktuelle Kamera" werden die Demonstranten in einer Wortmeldung als "Randalierer" bezeichnet. Einen Tag später werden Demonstrationsbilder gesendet.